Apfeldiebe
auch nur Mutters Stimme zu hören glaubte, Leons nie und auch keine anderen Stimmen. Dass er überhaupt etwas hörte, das wusste nur Vater und ob er es wirklich glaubte … na ja, Rufus wusste, dass dies eine der Fragen war, die er einerseits nicht beantworten konnte und, sollte doch eine Antwort existieren, dass diese Antwort keine Bedeutung besaß, denn auch Vater gehörte wohl eher zur Normalenfraktion, Vater hörte vielleicht nur zu, weil Rufus noch lebte.
Nach Mutters Tod, dem Umzug hierher und der Entdeckung des Berges hatte Rufus gehofft, dass die Menschen hier anders mit dem Tod umgingen als die Menschen in Hamburg. Wenn es an diesem Ort einen Berg gab, an dem er Mutter hören konnte, dann musste dies ein besonderer Ort mit besonderen Menschen sein. Am zweiten Schultag hatte er seinen Lehrer gefragt, ob man nicht eine »Arbeitsgemeinschaft Tod« gründen könne. Es folgte noch am selben Abend ein Gespräch zwischen Lehrer und Vater und die Hoffnung auf besondere Menschen löste sich in dummen Bemerkungen im Schulbus und Getuschel hinter vorgehaltenen Händen auf.
Leon hatte Stärke gezeigt und dass man sich seine Vorfreude erfüllen konnte. Er hatte sein dunkles Zimmer verlassen, sich von Rufus verabschiedet, ihm sogar sein ferngesteuertes Auto geschenkt, und sich im Wäldchen hinter dem Haus erhängt. Einfach so, zwölf Jahre alt. Und Rufus hatte es nicht verhindert, obwohl er damals gespürt hatte, dass Leon irgendetwas vorhatte. Aber er wollte das Auto behalten, unbedingt. Von den daraus resultierenden Schuldgefühlen hatte er nie zu jemandem gesprochen und als die Traurigkeit von Mutter immer mehr Besitz ergriffen hatte und sie viele Tage in ihrem Morgenmantel am Küchentisch verbracht hatte ohne ein Wort zu sagen, ohne irgendetwas zu tun, da hatte Rufus erkannt, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis Mutter den selben Weg gehen würde wie Leon. Gut, Leon hatte sich erhängt, sie ging ins Wasser, aber das war in etwa wie eine Reise, die der eine zu Fuß angeht, während sich ein anderer in den Zug setzt. Das Ziel aber blieb dasselbe: ein anderes Leben.
Rufus verstaute die Trinkflasche und warf einen Blick zurück über die Mauer. Dort, wo sich der Einstieg in Alex’ Welt befand, lagen noch immer nur Äste und Zweige, von Rufus’ Verfolgern keine Spur. Wahrscheinlich hatten sie die Verfolgung überhaupt nicht erst aufgenommen, schließlich besaßen sie ja noch Kasi. Rufus steckte sich die Stöpsel in die Ohren und das Rauschen der Blätter, der Gesang der Vögel verschwand hinter Maiskys Cello. Rufus nahm den Rucksack, kletterte über die Mauer und rutschte ein kleines Stück den Hang hinab, bis er den Trampelpfad zur Steina erreichte. Armer Kasi , dachte er, ging aber weiter. In dessen Haut wollte er jetzt wirklich nicht stecken. Alex hatte sich, den Geräuschen nach, die der vorhin ausgestoßen hatte, ziemlich heftig wehgetan und dürfte diesen Schmerz wohl jetzt an Kasi auslassen. Aber gut, so ist es eben, wenn man glaubt dazugehören zu müssen, denn Kasi gehörte ebenso wenig zu Alex und Max wie Rufus selbst. Aber das musste der jetzt eben lernen, besser heute als morgen.
Rufus warf immer wieder einen Blick zurück über die Schulter, blieb auch zwei Mal stehen und stellte die Musik ab, weil er meinte etwas gehört zu haben. Er erreichte gerade in dem Moment den Wanderweg am Steinaufer, als Alex und Max ihr Opfer unter die Decke hängten. Bevor Rufus hinter einer Wegbiegung verschwand, blieb er ein paar Sekunden stehen und sah zurück zur Ruine – alles still, niemand zu sehen. Armer Kasi.
Aber was soll’s, helfen hätte er ihm ja doch nicht können.
12 Das Ende
» Hört bitte auf. Bitte.« Kasi weinte. Max und Alex betrachteten ihr Opfer mit einem Interesse und einer Aufmerksamkeit, die keiner der beiden von sich kannte. Fasziniert von der Macht, die ihnen dieses Spiel in die Hände gelegt hatte, ausgestattet mit dem Wissen, dass jeder erwachsene Zwischenruf weit, weit entfernt irgendwo da oben ungehört verhallte, genossen sie den Anblick. Das schmächtige Mädchen baumelte einfach so von der Decke, hing an dem am einfachsten zu erreichenden Haken, welcher unmittelbar am Ausgang nach oben aus dem Deckengewölbe ragte. Es ging sogar viel einfacher als zuerst von Alex vermutet. Max hatte seinen kleinen Bruder auf die Schultern genommen, sodass dessen Kopf fast an die Decke stieß und Alex das holde Fräulein Brillenschlange (Wo war eigentlich die Brille?) auf die Arme genommen.
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