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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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nicht hielten, was sie versprachen, ganz im Gegenteil. Bei Rufus hatten sie die Trauer über Mutters Tod und die eigenen Schuldgefühle nicht etwa in Fröhlichkeit und Lebenslust verwandelt, sondern das eigene Denken nur auf eine schwer zu beschreibende Art und Weise vernebelt. Bis zum heutigen Tage musste noch ein Rest dieser Wirkung in ihm sein, denn manchmal war es noch immer so: er fand einen Gedanken, über den er nachdenken, den er zu einem Ende denken wollte und konnte es nicht. Die Worte und Sätze zerrissen, die Gefühle fühlten sich schwammig an und all das trieb dann wie Fetzen durcheinander und Rufus’ Wut über diese Unfähigkeit, klar denken zu können, überdeckte alles andere, sogar Mutter. Nein, diese Medikamente hatten ihm nicht geholfen und sie hatten Leon nicht geholfen. Sie halfen vielleicht dem Arzt, der sie verschrieben hatte oder der Frau in der Apotheke oder denen, die sie erfanden, aber Leon und Rufus nicht. Rufus hatte nach nicht einmal zwei Wochen aufgehört, sie zu nehmen und Vater dies stillschweigend akzeptiert, er brauchte schließlich auch keine Tabletten, um nach Mutters Tod weiterleben zu können, warum dann sein Sohn? Leon aber hatte sie bis zum letzten Tag geschluckt. Vielleicht hatte er gehofft, dass sie ihn am Leben erhalten konnten, wer wusste das schon, darüber gesprochen hatte er mit seinem kleinen Bruder jedenfalls nie. Über so etwas sprach man nicht, wenn man es ernst meinte, das wusste Rufus inzwischen aus eigener Erfahrung. Man spricht immer nur über Zweit- oder Drittwichtiges, jedenfalls wenn es sich dabei um eine angeblich nicht in das Denken eines gesunden Kindes passende Angelegenheit handelte und der eigene Tod gehörte ganz offensichtlich zu dieser Art Angelegenheiten. Kinder sollten lachen und toben und lernen und den Beispielen ihrer Eltern folgen, aber bitte nicht über den Sinn ihres Lebens und schon gar nicht über den eigenen Tod nachdenken, das gehörte sich nicht, für Erwachsene nicht und schon gar nicht für Kinder. Und wer es doch tat, der musste Tabletten schlucken, das Alter spielte dabei keine Rolle. Kinder wie Max und Alex, die sinnlose Spiele spielten, andere verhöhnten und ärgerten, diese Kinder galten als gesund, Kinder, die sich mit ihrer toten Mutter unterhielten als krank.
    Rufus kramte seine Wasserflasche hervor, trank einen Schluck und schüttete sich einen zweiten in den Nacken, verrieb ihn da und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Nein, wenn Alex und Max als gesund und normal galten und gesunde Normalität das anzustrebende Ziel hieß, dann wollte er nie und nimmer gesund werden. Er wollte nicht oberflächlich in seinem Leben herumvegetieren und schon gar nicht wollte er aufhören, über den Tod nachzudenken. Nie! Schließlich sah er selbst in diesem anderen Leben das wirkliche Ziel, auf das doch alles hinauslief. Sicher, ob dieser Zustand dann einen Endpunkt darstellte oder ob es danach vielleicht erst richtig losging, das wusste keiner und auch Mutter hatte ihm bisher noch nichts darüber verraten. Aber er würde es erfahren und darauf freute sich Rufus mehr als auf alles andere, fast noch mehr als auf das Wiedersehen mit Mutter und Leon.
    Durfte man sich auf den Tod freuen? Rufus hatte diese Frage für sich inzwischen mit einem klaren Nein beantwortet, freute sich aber trotzdem. Dieses Nein bezog sich auf die Sicht der Normalen, zu denen er sich nach reiflicher Überlegung jedoch nicht mehr zählte. Die aus seiner Freude erwachsene Freiheit nutzte er für eigene Gedanken und weitere, eigene Freuden. Er wusste inzwischen, warum er und seine Gedanken als krank galten: man brauchte nichts weiter für diese Freuden, weder Menschen noch Dinge, musste nichts kaufen. Es handelte sich um eine vollkommen private Freude, diese Vorfreude, Rufus aber verstand nicht, warum nicht jeder so dachte wie er, warum die Menschen sich nicht ununterbrochen über dieses Mysterium Tod unterhielten. Es ging alle etwas an und fast alle beteten zu einem Gott und glaubten an ein Leben nach dem Tod, aber keiner schien sich auf dieses Leben wirklich zu freuen oder sich bewusst für einen vorgezogenen Beginn dieses Lebens zu entscheiden. Wie stark und ehrlich konnte dann dieser Glaube sein, wenn er nicht zu Gesprächen über dieses Mysterium und zum Freitod führte?
    Ob Leon wohl ähnliche Gedanken mit sich herumgeschleppt hatte? Diese Frage stellte Rufus sich oft, auch Mutter fragte er danach, erhielt aber keine Antwort. Seltsam, dass er oben auf dem Berg

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