Apfeldiebe
dem Gang nach oben, »da haken wir die Kette ein und unser lieber Kasimir darf ein wenig schaukeln.«
11 Das andere Leben
Oben auf der Burg, versteckt hinter einem Mauervorsprung, saß Rufus auf einem Stein. Über dem Kopf des Jungen breitete eine Buche ihre Arme aus. Durch diesen löchrigen Schirm aus Blättern und Zweigen fielen Tausende winzige Sonnenstrahlen und verwandelten die Welt unter dem Baum in einen Flickenteppich aus Hell und Dunkel, aus Licht und Schatten. Die Überreste des Regens vom Vormittag glitzerten wie Diamanten auf jedem Grashalm, jedem Zweig, an den Spitzen der Blätter, von wo aus sie, wie ein Echo dieser abgezogenen Schlechtwetterepisode, einen zweiten Regen zauberten und das Kind zu seinen Füßen durchnässten. Aber Rufus nahm weder die Nässe noch den Zauber dieses Augenblickes wahr. Er sah keinen aufsteigenden Dunst, nicht die sich in diesem Dunst zu Säulen manifestierenden Sonnenstrahlen. Er hörte nicht den Gesang der Vögel. Der Zwölfjährige schloss die Augen, hielt seinen Rucksack auf dem Schoß und legte den Kopf darauf. Er zitterte – aus Angst, weil er fror, er wusste es selbst nicht und das Warum bedeutete auch nichts, wichtig nur, dass er nicht mehr da unten sein musste, nicht mehr bei Max und Alex. Er hatte sich hier hinter den Mauerresten versteckt, weil er eigentlich damit rechnete, dass man ihn verfolgen würde – aber nichts tat sich. Alles blieb still, nur ein kaum spürbarer Windhauch, der an den Hängen der Burg nach oben stieg, spielte mit den Blättern. Vögel tanzten dazu, sangen und hoch über der Burg drehte ein Milan ohne Flügelschlag seine Kreise. Hin und wieder stieß er einen Ruf aus – eine Welt im Gleichgewicht, eine Welt, die das Kind nicht brauchte und die dieses Kind nicht einmal bemerkte.
Nach und nach entspannte sich Rufus’ Haut, der Flaum im Nacken und auf seinen Armen legte sich und das Zittern seiner Schultern ließ nach. Doch, gestand er sich ein, doch, was er empfand, hieß Angst . Angst. Angst, wie er sie seit letztem Winter nicht mehr empfunden hatte, nein, eigentlich in dieser Form überhaupt noch nicht kannte. Letzten Winter hatte sich seine Angst um Mutter gedreht, heute um ihn selbst. Max’ Augen, wie diese auf ihn zukamen, dazu Kasis Weinen – das alles zusammen ergab mehr als genug Grund sich zu ängstigen. Aber jetzt befand er sich in Sicherheit und dieses hirnrissige Spiel hatte ein Ende gefunden, jedenfalls für ihn. So verbrachten sie also ihre Zeit. Rufus verzog den Mund zu einem Lächeln, ein Lächeln, welches allerdings eher zu Schmerzen passen wollte. Nein, er gehörte nicht dazu und er würde auch nie im Leben dazugehören. Nie! Er gehörte auf den Berg, unter den Funkmast und der einzige Grund, warum er überhaupt noch am Leben blieb, hieß: Vergebung. Mutter musste ihm vergeben, irgendwann und dann könnte endlich auch er gehen. Aber noch wusste er nicht mit abschließender Sicherheit, dass sie ihm vergeben hatte, noch nicht.
Seit sich zuerst Leon, Rufus’ zwei Jahre älterer Bruder, und schließlich auch Mutter für dieses andere Leben entschieden hatten, dachte Rufus eigentlich nur noch über dieses andere Leben nach. Die meisten nannten es Tod , er ein anderes Leben . Der Glaube an solch ein anderes Leben gab dem Kind Kraft, das Geschehene zu überwinden, in erster Linie aber ließ er es weiterleben und die eigenen Schuldgefühle ertragen. Schuld – darum drehte sich alles. Wäre Vater nicht gewesen, er hätte diese Schuld längst gesühnt.
Depressive Verstimmungen hatte ein Hamburger Kinderarzt diagnostiziert, damals zählte Leon gerade einmal neun Jahre. Rufus hatte nie bewusst über das Verhalten seines Bruders nachgedacht, warum der lieber allein in seinem abgedunkelten Zimmer saß, während der kleine Bruder am Elbufer spielte, weshalb er sich manchmal mehrere Tage hintereinander weigerte, das Bett zu verlassen und zur Schule zu gehen, wenig sprach und wenn, dann meist über Dinge, die Rufus einfach nicht verstand: den Tod, den Sinn hinter allem Tun, Einsamkeit. Das zweite Schuljahr hatte Leon wegen dieser Betttage wiederholen müssen und Rufus hatte sich damals lauthals auf den Tag gefreut, an dem er mit seinem großen Bruder die gleiche Klasse besuchen würde. Aber dazu kam es nicht. Leon bekam ein ganzes Bataillon Tabletten und Tropfen, die ihm angeblich gute Gedanken schenken sollten. Rufus selbst hatte sie nach Mutters Tod ein paar Tage genommen und wusste so aus eigener Erfahrung, dass diese Mittel
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