Apfeldiebe
es aus allen Positionen heraus versucht, es aber nie geschafft, ihr direkt in die Augen zu sehen. Wie eine Mona-Lisa. Sie sah an ihm vorbei als hätte sie damals, als sie dieses Bild bei einem Fotografen in Bonndorf hatte aufnehmen lassen, schon gewusst, dass ihr Weg sie an diesem Mann vorbeiführen sollte.
Wie jede Nacht mindestens drei Mal und unzählige Male an den Tagen dazwischen, streichelten Seilers Finger den schlanken, ungewöhnlich langen Hals der Frau. Sie trug ihr Haar straff nach hinten gekämmt und zu einem Dutt geknotet, was diesen Hals noch länger erscheinen ließ – wie aus Marmor oder Glas, durchscheinend und zerbrechlich wie alles an ihr. Seilers Finger wanderten über diesen Hals, über Kinn und Mund. Die Erinnerung an die Küsse dieses Mundes zauberten auch heute noch ein Brennen auf die Lippen des Alten. Er liebte dieses Gefühl, denn dann kam sie zurück, schlang die Arme noch einmal um ihren Geliebten und …
Seiler stellte das Bild zurück, das Brennen ließ nach und Hasso freute sich über die Rückkehr seines Herrchens, als habe der das arme Tier eine halbe Ewigkeit allein im Schlafzimmer zurückgelassen. Hasso wedelte zwischen Bett und Wand stehend mit dem Schwanz und schlug abwechselnd gegen das eine und die andere – der Rhythmus seiner Liebe.
Seiler tastete sich ins Bett, zog die Decke bis ans Kinn (Eine weitere Strafe Gottes: Frieren, selbst im Hochsommer. Und das als Mann!) und schenkte Hasso die erwarteten Streicheleinheiten.
» Brut, elende.« Der alte Mann lag auch eine halbe Stunde später noch wach und starrte an die Decke. Er besaß so unendlich viel Zeit nachzudenken, nur nichts, worüber sich nachzudenken lohnte. Trotzdem führten ihn Erinnerungen und Träume jede Nacht durch sein ganzes langes Leben und taten das, was man sich als Mensch selbst nur wünschen konnte: Er durfte in der einen Sekunde die Frau aus dem Wohnzimmer küssen, einen Wimpernschlag später als Kind Fußball spielen, während britische Bomber im Tiefflug die nächstgelegene Großstadt ansteuerten und, wieder nur einen Gedanken später, Apfeldiebe vom Baum zerren. »Elende Brut.«
Vor zwei Tagen erst hatten sie ihn bestohlen und, noch schlimmer, waren ihm anschließend entwischt. Aber, und der alte Mann konnte sich auch jetzt ein anerkennendes Lächeln nicht verkneifen, der Bengel auf dem Baum hatte seinen Hasso überlistet. Und das Herrchen gleich mit dazu. Und er selbst hatte doch allen Ernstes geglaubt, dem Rotzlöffel mit seiner Drohung von Polizei und so Angst einjagen und ihn zum Aufgeben zwingen zu können. Aber mit einem alten Mann konnte man es ja machen, den durfte jedes Kind im Dorf bestehlen und verhöhnen und auslachen und von den Eltern dachte niemand daran, diese kleinen Ungeheuer zur Vernunft zu bringen. Sicher, auch er hatte als Kind den Alten im Ort Streiche gespielt und auch manchen Apfel gegessen, der nicht auf dem Baum seiner Eltern gereift war, trotzdem hatte es damals noch Anstand gegeben. Und so etwas wie Respekt, vor allem den Alten gegenüber.
Seiler wälzte sich auf die Seite und Hasso tat es seinem Herrchen gleich.
» Wenn ich den Bengel nur besser gesehen hätte. Und wenn du dich nicht einfach so um den Baum hättest wickeln lassen.« Hasso spitzte die Ohren, jedoch zu spät. Das Kind vom Apfelbaum war längst über alle Berge und mit ihm sicher auch ein ganz hübsches Häufchen Äpfel. Ärgerlich, aber eben nicht mehr zu ändern, wie so vieles im Leben. Künftig jedoch wollte Seiler sich besser um seine Wiesen kümmern, vor allem öfter mit Hasso zu diesen hinaufgehen. Und vielleicht hatte er ja Glück und erkannte einen der Jungen oben auf dem Sportplatz wieder und dann gnade denen Gott.
Wie gut es all diesen Kindern heute geht , dachte Seiler und strich mit den Fingerspitzen über sein Laken. Hier, in genau diesem Zimmer, hatte er das Licht der Welt erblickt und hier zwischen Vater und Mutter geschlafen und geträumt. Bis Vater in den Krieg musste. Polen, Frankreich und schließlich Russland. »Sowjetunion«, korrigierte sich Seiler. Vater ging und die einzige Erinnerung an diesen Vater trug eine Uniform und eine Mütze und irgendwo glitzerte ein Totenkopf. Der Mann unter dieser Mütze salutierte vor dem winzigen Gernot, lachte und warf seinen Sohn in die Luft. Und ging. Und kehrte niemals mehr zurück. Er fiel in den ersten Tagen, erschossen von einem im Hinterhalt lauernden Russen. Aber er hatte Mutter etwas hinterlassen, was in den folgenden neun Monaten in ihr
Weitere Kostenlose Bücher