Apfeldiebe
Bonndorfer Krankenhaus hatte verbringen müssen – die einzigen Tage seines Lebens, die er nicht im eigenen Bett gelegen hatte. Heute gab es dieses Krankenhaus schon lange nicht mehr, wie auch den Bahnhof. Wegrationalisiert oder so. Dafür existierten jetzt größere Krankenhäuser und größere Bahnhöfe, alle leider zu weit weg für einen alten Mann ohne Auto. Aber Seiler vermisste weder das eine noch das andere. In ein Krankenhaus wollte er nie wieder gehen. Sie sollten ihn hier sterben lassen, wenn der liebe Gott irgendwann einmal meinte, die Zeit sei nun endlich gekommen. Und einen Bahnhof? Den brauchte er nun wirklich nicht. Wen sollte er schon besuchen?
Gernot Seiler zerriss nebenher die jede Woche in seinem Briefkasten steckenden kostenlosen Wochenzeitungen zu handlichen Quadraten – Toilettenpapier, welches er auf einen aus der Wand ragenden Nagel spießte. Es musste vor dem Benutzen nur kurz unter den Wasserhahn gehalten werden. Das führte zwar zu Druckerschwärze zuerst an Seilers Gesäß und anschließend in seiner Unterhose, aber auch das sah ja keiner.
» Wüsste nur gern, was die heute so lange am Waldrand gesucht haben.«
Von seinem Fernsehsessel aus besaß Gernot Seiler einen unverstellten Blick auf seinen kleinen Garten und über den Zaun hinweg auf die anschließenden Wiesen bis hin zum Waldrand. Den Sportplatz, auf dessen Vorgänger an gleicher Stelle er vor einem Menschenleben schon Fußball gespielt hatte (mit Seilen umwickelte Stofffetzen), diesen Sportplatz allerdings konnte er nicht sehen, ein Hügel verbarg ihn, genauso wie Seilers Streuobstwiese. Trotzdem hatte Seiler genug erkennen können: Autos, die auf sonst höchstens noch von Traktoren benutzten Feldwegen fuhren, Männer mit Telefonen. Und als die Dämmerung anbrach und alle Kontraste mit grauer Ausgleichsmasse verkleisterte, da flackerten doch tatsächlich überall am Waldrand Taschenlampen. Zuerst hatte er an eine Treibjagd gedacht, diese Möglichkeit aber schnell wieder verworfen. Auch wenn er mit diesen Mördern , wie Seiler Jäger bezeichnete, nichts zu tun haben wollte, wusste er, dass sie lieber am Morgen jagten. Außerdem fiel weit und breit kein Schuss. Seiler hatte extra seinen Sessel verlassen und den Fernseher abgeschaltet, das Fenster einen Spaltbreit geöffnet und gelauscht, aber nichts. »Ich werde es erfahren. Irgendwann. Und wenn nicht …« Seiler schüttelte den Kopf, zog seine Hose nach oben und verließ ohne zu spülen die kleine Toilette. Er zog die Tür hinter sich zu und wusste, dass er vor dem morgendlichen Geschäft noch mindestens einmal zwischendurch hier mit seinen Tropfen auftauchen würde, spülen konnte er dann wie jeden Tag erst am Morgen, dann, wenn es etwas zu spülen gab.
Seiler tastete sich im Dunkeln durch den engen Flur des Bauernhauses, erreichte das Wohnzimmer und blieb am Fernseher stehen. Trotz der auch hier herrschenden Dunkelheit konnte er genau sehen oder besser: seine Erinnerung sah für ihn. Seit Jahrzehnten stand in diesem Haus alles am selben Fleck, wurde allerhöchstens etwas ausgetauscht, wenn das Original seinen Zweck nicht mehr erfüllte. Aber so etwas kam herzlich selten vor, zuletzt der Fernseher und das lag nun auch schon wieder vierzehn Jahre zurück. Der Alte hatte mit einem lauten Knall und sehr viel Rauch mitten im Abendprogramm seinen Dienst quittiert und Seiler anschließend fast ein halbes Jahr suchen müssen, bevor er für damals noch zwanzig Mark fast dasselbe Modell in einer Anzeige entdeckt hatte.
Seilers Fuß tastete nach der Teppichkante. Er wusste links den kleinen Tisch, ging zwei Schritte und stand vor seinem Fernseher. Er blieb immer stehen, wenn er hier vorbeikam und, auch dies ein immer wiederkehrendes Ritual, die Fingerspitzen des alten Mannes berührten das auf seinem Fernseher stehende Bild.
» Ich komm ja gleich, Hasso. Bin gleich bei dir.« Das Fiepen des Mischlings drang durch die Schlafzimmertür. Aber Seiler hatte es nicht eilig und eigentlich hätte das Tier inzwischen wissen müssen, dass sein Herrchen zuerst dieses Bild streichelte, bevor er sich in sein Bett legte, eine Hand heraushängen ließ und ihn streichelte.
Die ein halbes Jahrhundert zählende Schwarzweißfotografie zeigte bei Licht betrachtet eine junge Frau, gerade zwanzig Jahre alt. Seiler kannte jedes Detail der sich inzwischen an manchen Stellen bräunlich verfärbenden Aufnahme: er kannte ihre Augen, die groß und ernst immer eine Winzigkeit an ihm vorbeisahen. Seiler hatte
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