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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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herangewachsen war und ein Bruder, vielleicht sogar ein Freund hätte werden können, was aber kurz nach der Geburt starb. Und so wuchs Seiler allein bei seiner Mutter auf, wurde von ihr unterrichtet, arbeitete neben ihr auf dem Feld. Damals besaßen sie drei Kühe, ein Schwein und auch ein Pferd, Letzteres aber mussten sie noch kurz vor Kriegsende dem Militär überlassen. Für den Endsieg. Nach dem ausgebliebenen Endsieg kamen die Franzosen und nahmen sich den Rest, einzig eine Kuh hatte Mutter retten können, wie, das hatte sie ihm nie erzählt, nur zur Seite gesehen, wenn die Rede darauf kam.
    Die Franzosen gingen und es kam Mutters Husten. Er dauerte genau einen Winter, dann lag sie, nur noch Haut und Knochen, nebenan im Wohnzimmer auf genau diesem Sofa, den Kopf auf dem Kissen, auf dem heute noch der Kopf ihres Sohnes nach dem Mittagessen lag. Tot. Gernot zählte da gerade fünfzehn Jahre.
    Mit fünfzehn hätte er eigentlich in ein Heim gemusst. Hätte. Aber hier im Südschwarzwald tickten die Uhren schon immer ein klein wenig anders, denn er durfte bleiben. Er bekam einen Vormund aus Bonndorf, einen Lehrer, der jeden Sonntag zuerst mit Gernot in das winzige Kirchlein des Dorfes ging und anschließend Haus und Hof inspizierte. Diesem Herrn entging nichts. Zuerst trat er sich die Schuhe ab und musterte währenddessen den Vorgarten des Hauses. Wehe, er fand ein Hälmchen, das nicht dahin gehörte, wo es stand. Aber meist gab es diesbezüglich nichts zu beanstanden, denn Gernot verbrachte den Samstagabend genau aus diesem Grunde in seinem Garten, jätete Unkraut, schnitt verwelkte Blumen und goss keimendes Gemüse. Danach betrat Herr von Arnstorff das Haus. Am Eingang musste er sich bücken und Gernot schwankte damals immer zwischen Erstaunen (Er verbeugt sich vor mir?!) und Lachen, denn dieser Herr aus der nahen Stadt wollte so gar nicht nach Wittlekofen und da zuallerletzt in dieses Haus passen. Herr von Arnstorff musste ähnliche Gedanken gehabt haben, denn einmal im Haus, beeilte er sich, dieses schnellstmöglich wieder zu verlassen. Allerdings vernachlässigte er dabei kein einziges Mal seine ihm auferlegten Pflichten: Er öffnete jeden Schrank und jede Schublade. Er bestand darauf, dass die Kleidungsstücke Kante auf Kante lagen und dass der Junge selbst seine Taschentücher bügelte. Sein Finger fuhr an den unmöglichsten Stellen über Schränke und Kanten, immer auf der Suche nach einem Krümel Staub.
    Hatte er im Haus alles zu seiner Zufriedenheit vorgefunden, ging er vor dem Jungen her in den Stall. Am ersten Inspektionstag hatte er Gernot die Regeln erklärt: Das Vieh musste gut genährt im Stall oder auf der Weide stehen, es musste sauber sein, wie auch Stall und der davor liegende Hof. Hatte Herr von Arnstorff nach einer halben Stunde seinen Besuch beendet, nickte er Gernot nur zu und tippte sich an den Hut. Beanstandungen gab es selten, denn Gernot wollte um keinen Preis der Welt in ein Kinderheim, ihm reichten schon die Kinder hier im Dorf, die, seit er allein für sich sorgen musste, absichtlich vor seinem Haus spielten, während er arbeitete. Sie hüpften über die Wiesen oder lagen faul im Gras, während er auf dem Feld daneben hinter seinem Gespann aus inzwischen wieder zwei Kühen herstolperte und den Acker bestellte. Aber er hatte es überlebt und es hatte dazu geführt, dass er bis zum heutigen Tag kaum mit jemandem aus dem Dorf sprach, denn entweder gehörten sie zu diesen Kindern von damals oder waren mit diesen verheiratet oder ihre Brut in zweiter und dritter Generation.
    Die sonntäglichen Inspektionsbesuche hatte Seiler gefürchtet, hing doch immer das Damoklesschwert Kinderheim über seinem Kopf. Es waren lange Jahre gewesen, in denen er nur auf den Tag seiner Volljährigkeit und auf die damit verbundene Freiheit gewartet hatte. Und dieser Tag kam, mit ihm ein letzter Besuch des Herrn von Arnstorff, danach aber blieb seltsamerweise alles beim Alten. Nichts änderte sich an seinem Leben, ausgenommen die Sonntage, die gehörten fortan ihm, auf Kirche und Inspektionen verzichtete er, alles andere aber, was ihm der alte Lehrer beigebracht hatte, behielt er bei und versorgte seinen Besitz bis zum heutigen Tag in Herrn von Arnstorffs Sinne.
    Gernot Seiler lächelte. Er dachte gern an seinen Lehrer, wer wusste schon, wie das Leben ohne ihn verlaufen wäre.
    » Dann hätte ich ins Heim gehen müssen und das hier alles wäre verfallen und zugewachsen.« So aber hatte er die angebotene

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