Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
die Knochen mehr schmerzten und an jedem verfluchten neuen Morgen die Widerstandszahnrädchen in den eigenen Gelenken einen Zahn nach vorn schnappten und es eine Ewigkeit dauerte, den Zustand des Vortages wenigstens annähernd wieder herzustellen. Und als ob es auch noch nicht genug damit war, dass der Husten vom letzten Winter trotz Hochsommer nicht gehen wollte und das Sodbrennen nach jeder Mahlzeit inzwischen bereits vor diesen Mahlzeiten einsetzte, hatte der liebe Gott auch noch den Trick mit dem nächtlichen Harndrang erfunden. Mit einem alten Mann wie ihm, mit keinem Gramm Fett auf den Rippen und kaum noch Haaren auf dem Kopf, ja mit dem konnte man es ja machen.
    Nächtlicher Harndrang – so nannten es die Verkäufer aus dem Fernsehen, die in ihren Werbefilmen einen fidelen Großvater zeigten, der im Halbdunkel aus dem Bett sprang (!) und zu seiner Apotheke eilte, während eine sympathische Stimme Abhilfe in Form kleiner (sehr teurer) Pillen versprach. Idioten, wusste Seiler, alles Idioten – die, die solches Zeug produzierten und die, welche dieses Zeug fraßen und auf ein Wunder warteten und weiter jede Nacht, wie Gernot Seiler, mindestens dreimal das warme Bett verlassen mussten. Weil sie mussten. Nächtlicher Harndrang – von wegen! Eine Gemeinheit nannte Seiler seine Ausflüge aufs Klo und so, wie er sie jedes Mal verfluchte, würde Gott sich noch einiges mehr an Gemeinheiten ausdenken müssen, wollte er sein alterndes Ebenbild zur Räson bringen. Aber vielleicht – und dies hoffte Seiler von ganzem Herzen – vielleicht hatte Gott dieses Vorhaben längst abgehakt und verschonte ihn in seinen letzten Jahren wenigstens vor solch grauenvoll klingenden Sachen wie Krampfadern , Inkontinenz und Magengeschwür . Seiler hoffte dies, die Hand würde er für die Erfüllung solch einer Hoffnung allerdings nicht ins Feuer legen. Aber bei Gott wusste man nie. Dem alten Despoten konnte plötzlich sonst was einfallen. Statt jedoch erst einmal in Ruhe darüber nachzudenken und die Sache mit seinen Erzengeln zu besprechen – nein, ich bin Gott und was ich denke, Gesetz – und schwupp, ehe man es sich versah, hatte man eine Eiterbeule im Nacken oder Hämorrhoiden und all solches Zeug und wünschte sich, man hätte diesen ganzen irdischen Kram endlich hinter sich. Wahrscheinlich, so vermutete Seiler, wahrscheinlich machte Gott dies absichtlich, damit sich von den Alten ja keiner zu lange an sein bisschen Leben klammerte. Jaja, früher oder später kamen sie alle zu ihrem Schöpfer und, Seiler klappte den Toilettendeckel hoch und stellte sich auf mindestens sieben Minuten Tropfenbildung ein, hoffentlich recht bald!
    Die Schlafanzughose um die Knöchel gewickelt, saß der alte Mann vornübergebeugt und wartete und zählte jedes einzelne Tröpfchen. Prostata. Sein Arzt sagte, man könne das vielleicht mit einer kleinen Operation beheben, irgendetwas rausschaben und dehnen, aber Gernot Seiler hatte dankend abgelehnt, erstens wegen dieses Vielleichts und zweitens wegen Hasso. Wer sollte sich während seiner Abwesenheit um das Tier kümmern, ihm sein Futter geben, ihn nach draußen lassen, damit er sein Geschäft erledigen konnte, wer seine Ohren kraulen? Außerdem, selbst wenn man dieses Prostata-Ding da vielleicht tatsächlich wieder in Ordnung bringen konnte, schlafen würde sein Besitzer deswegen trotzdem nicht besser, denn ob er nun musste oder nicht, alle zwei, drei Stunden zog der Schlaf sein Tuch zurück, sah nach dem alten Mann und rüttelte ihn wach. Mit kranker Prostata existierte wenigstens ein Grund, aufzustehen und ein paar Minuten totzuschlagen und nicht einfach nur dazuliegen und Löcher so groß wie ein Wagenrad in die Decke zu starren. »Nein, nein«, Seiler schüttelte den Kopf, »das hat schon seine Richtigkeit so. Genau so kommt es eben, wenn man alt wird, dann setzt man sich sogar zum Pinkeln hin wie eine Frau.« Denn sieben Minuten stehen konnten für einen Mann Mitte Siebzig ziemlich lang werden, vor allem, wenn diese sieben Minuten drei- oder viermal jede Nacht anklopften. Dann setzte man sich eben, sah ja keiner.
    Gernot Seiler hatte in diesem Haus das Licht der Welt erblickt und seither jede einzelne Nacht seines langen Lebens in Wittlekofen verbracht.
    » Stimmt nicht ganz«, unterbrach er sich selbst. »Vierzig Jahre?« Er überlegte und fügte zwei weitere Jahre hinzu. »Zweiundvierzig Jahre ist es nun schon wieder her.« Seiler meinte zehn Tage, die er wegen eines geplatzten Blinddarmes im

Weitere Kostenlose Bücher