Apfeldiebe
Alex. Ihm widerstrebte die Vorstellung, dass die erwarteten Rettungskräfte als Erstes eine Toilette betreten sollten.
» Und wo dann?«, fragte Max und zeichnete mit seinem Urin bereits ein großes M in den (Schnee) Staub, »etwa da, wo unsere Rucksäcke liegen?« Er drehte sich völlig ungeniert um, schüttelte die letzten Tropfen ab, gut sichtbar, als könne er so den eigenen Worten zusätzliches Gewicht verleihen. »Soll ich es etwa so wie das Mädchen machen und dahin pinkeln, wo ich liege?«
» Hab ich gar nicht!« Kasi drehte sich um, er sah zu Alex, aber Alex lächelte nur und zuckte mit den Schultern. Sein Blick wanderte zu Kasis Schritt, an dem auffallend viel Staub klebte, verbacken zu einer von Rissen durchzogenen Glasur.
» Tut mir ja leid Kleiner, aber Max hat recht. In beiden Punkten.« Alex fügte Max’ Anfangsbuchstaben den eigenen hinzu und auch Timis Blase meldete sich.
» Wartet ihr?«, fragte er und ließ in der folgenden halben Minute die anderen nicht aus den Augen. Den hieraus resultierenden nassen Fuß nahm er für diese Sicherheit in Kauf.
Zurück bei ihren Rucksäcken stürzte sich jeder auf das bisschen Proviant, das Alex so überschwänglich als Frühstück bezeichnet hatte. Die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten, teilweise jedenfalls: Timi starrte in einen fast leeren Rucksack und auch bei seinem Bruder sahen die Vorräte nicht besser aus – zwei Muffins und eine angebrochene Tüte Gummibärchen. Alex hingegen hatte am Vortag seine beiden Brötchen nicht angerührt und auch Kasis Brote, obenauf ein Zettel seiner Mutter ( Lass es dir schmecken! Ich hab dich lieb! , gefolgt von einem großen Herz), lagen noch so in ihrer Dose, wie Mutter sie vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hineingelegt hatte.
Timi nahm den am Vortag noch verschmähten Apfel. Obst und rohes Gemüse – das ist was für die Viecher. Und die Körnerfresser, was aufs selbe rauskommt – so Timis Vater. Dieses Vorbild hatte dazu geführt, dass Timi freiwillig weder das eine noch das andere anrührte. Normalerweise schlug er einen großen Bogen um alles, was nach Vitaminen roch, als sei in diesen das Übel der Welt verborgen. Letzteres konnte allerdings durchaus stimmen, fand Timi. Seit er im Religionsunterricht die Sache mit dem Paradies und diesem Apfel da gehört hatte, ergaben Vaters Worte für den Jungen einen Sinn. Äpfel und all das andere Zeug verdarben den Menschen und ganz offensichtlich gehörte es zu den Hauptaufgaben der Frauen, ihre Männer und Kinder damit vom richtigen Weg abzubringen, denn wie Eva hinter Adam rannte auch Mama ständig mit einem Apfel in der Hand hinter Timi her. Diesen hier hatte sie hinter seinem Rücken in den Rucksack ihres Sohnes geschmuggelt. Oder stammte er von Seilers Baum? Timi hielt ihn in der Hand, wagte aber nicht hineinzubeißen. Sehnsüchtig schielte er auf Max’ Muffin. Alex biss gerade in sein Brötchen, dick mit Käse, Schinken und einem Salatblatt belegt, und Kasi saß da drüben im Halbschatten, kaum zu erkennen. Aß er etwas?
Timi gab der zwischen den beiden Brüdern liegenden Taschenlampe einen unabsichtlichen Schubs und Kasi erschien im Rampenlicht. Mit hochgekrempelten Hosenbeinen saß er an der Wand und jeder konnte die verkrusteten Streifen an Hand- und Fußgelenken erkennen. Wie Armbänder. Den rechten Ärmel seines T-Shirts hatte er ebenfalls nach oben gewickelt, so scheuerte der Stoff wenigstens nicht mehr bei jeder Bewegung über die Bisswunde, aber, Timi senkte den Blick, so erinnerte dieser Anblick ununterbrochen an das, was Max getan hatte. Timi schämte sich ein wenig für seinen Bruder.
Die Augen geschlossen, hielt Kasi ein Brot in den Händen, biss aber nicht hinein. Seine Lippen bewegten sich. Beten vor dem Essen gehörte dazu – eine Gewohnheit vielleicht, aber wenn, dann auf alle Fälle eine ehrliche Gewohnheit. Schon immer hatte er vor dem Essen die Hände gefaltet, Kasi tat es selbst, wenn andere Kinder mit am Tisch saßen und ihn auslachten. Allgemein vermutete man, dass Kasi das auch schon im Bauch seiner Mutter so gemacht hatte, bevor er sich einen Schluck aus der Nabelschnur gönnte oder später an ihrer Brust. Kasi selbst hielt dies durchaus für möglich. Er dankte für dieses Brot und bat um eine schnelle Rettung. Und um Schutz.
» Betet der etwa?!« Max leckte die Krümel aus dem Faltenpapier, knüllte es zusammen und legte es sich auf die flache Hand. »Das Kasi-Mädchen betet«, lachte Max, zielte auf den Betenden
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