Apfeldiebe
öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, doch Max hielt ihm einfach den Mund zu und sperrte die Worte weg. »Pst!«
Max versuchte, etwas zu verstehen. Kasi rief noch immer um Hilfe, jetzt aber leiser. Das Rumpeln hörte auf. Hatte es einen erneuten Einsturz gegeben? Hatte es diesmal das Mädchen erwischt? Bei der Vorstellung, dass da vorn in diesen Sekunden Max’ größtes Problem unter einem Haufen Schutt verschwunden sein könnte, besserte sich die Laune des Jungen schlagartig. Er starrte in die Dunkelheit, lauschte auf die weniger werdenden Geräusche und dabei ratterte es unter seinem dichten Haarschopf, fügte sich eines zum anderen und alles zusammen ergab am Ende ein perfektes Bild, DAS perfekte Bild! Wenn Kasi nicht mehr wäre, dann würde niemand etwas von seinem kleinen Ausrutscher erfahren! Sie würden dieses Mädchen und Rufus nach oben schleppen und aufbahren und sich über die komische Wunde an Kasis Oberarm wundern. Tja, was eine Steinlawine so alles anrichten konnte. Sehr bedauerlich. Timi würde die Klappe halten, entweder weil man dies so macht, wenn es um den eigenen Bruder geht oder, sollte Timi darüber anders denken, weil dieser große Bruder ihn dazu zwingen würde. Und Alex? Max, der vor zwei Tagen noch die Hand für seinen Freund ins Feuer gelegt hätte – eine Hand im Asbesthandschuh – konnte die Frage nach Alex’ späteren Aussagen nicht spontan zu seinen Gunsten beantworten. Ja, bis sich das hier alles in ein Gefängnis verwandelt hatte, gab es kein Zögern – Alex stand auf seiner Seite. Aber jetzt? Alex benahm sich irgendwie komisch, wie ein Weichei. Er redete mit dem Mädchen als sei es ihresgleichen. Was Alex nach ihrer Rettung aussagen würde, das stand noch in den Sternen, aber Alex und Max, sie waren immer noch Freunde, gehörten zusammen – auch, wenn Alex im Moment so etwas wie eine schwierige Phase durchmachte. Vielleicht lag es an der Pubertät, an seiner in letzter Zeit so komischen Stimme und den beiden Haaren an seinem Kinn? Vielleicht an der ganzen Situation hier?
» Lass uns nachsehen. Bitte.« Max schüttelte den Kopf, als Antwort und um aus seinen Gedanken ins Jetzt zurückzukehren.
» Nein.« Das klang endgültig. »Haben die etwa nach uns gerufen?« Kopfschütteln. »Also. Wenn die unsere Hilfe brauchen, werden sie sich schon melden.« Oder auch nicht. Hoffentlich nicht.
Die Brüder setzten sich zurück an die Wand. Max trank aus Kasis Flasche und auch Timi nahm, mit schlechtem Gewissen, einen Schluck. Alles blieb jetzt still da vorn. Tot? Lebendig? Verletzt?
Max musste an seinen Stiefvater denken. Manchmal erwachte Max am Morgen und wusste , dass er seinen Vater getötet hatte – ein perfekter Augenblick. Eine Woge des Glücks schlug in solchen Momenten über dem Jungen zusammen, aber nur ganz kurz, dann sah er durch die Gischt dieser Woge hindurch einen winzigen Ausschnitt der Realität und verbesserte sich: Ich habe Timis Vater umgebracht . Es tat so unendlich gut, diese Gedanken zu denken, es befreite und füllte aus dem großen Füllhorn Wahrheit das Wissen, zum ersten Mal etwas wirklich Richtiges getan zu haben, in das Kind. Aber dieses Glück wollte nie lange bleiben; die Glückswoge überschritt ihren Zenit, teilte sich und zog sich dahin zurück, von wo sie gekommen war: ins Nichts – Max’ Heimat. Das Glücksgefühl schwand und zurück blieb die so bitter schmeckende Erkenntnis, es wieder einmal nicht getan zu haben, ausgeliefert zu sein und gewartet zu haben.
Verletzt? Lebendig? Tot?
» Du bleibst hier!« Max musste Gewissheit haben. Er nahm seine Taschenlampe und ließ den kleinen Bruder allein im Dunkeln zurück. Timi kroch Max bis zum Ausgang hinterher, sodass er von hier aus dessen Licht durch den Fässerraum verfolgen konnte und selbst, als Max im Gang zum Unglücksraum verschwand, blieb doch noch ein fernes Leuchten. Timi behielt dieses Licht im Auge. Hoffentlich war Kasi und Alex nichts Schlimmes zugestoßen.
Von dem hinter ihm stehenden Beobachter bekam Alex nichts mit, zu sehr nahm ihn das Loch am Boden gefangen. Wie aus dem Nichts gekommen, lag es zwischen ihm und Kasi. Auch Kasi starrte auf diese Öffnung und, so vermutete Alex, wahrscheinlich gingen dem die gleichen Gedanken durch den Kopf wie ihm: ein Ausgang?
» Glaubst du, dass der Boden hält?« Kasi klebte beinahe an der Wand, versuchte sich so dünn wie möglich zu machen. Zwar lagen zwischen ihm und dieser Öffnung gute zwei Meter, aber Kasi traute diesem Boden nicht
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