Apocalyptica
zu abscheulich und aufwühlend waren die Bilder, die sie im Traum gesehen hatte. Vielleicht, so dachte sie, würden die Bilder Realität werden, wenn sie sie beschrieb. Wenn sie sie für sich behielt, konnte sie eventuell verhindern, dass ihre Visionen Wirklichkeit wurden. Sie hatte Naphal gesehen, erwachsen und schrecklich verzerrt und verdreht. Eigentlich hatte sie nur gespürt, dass es ihr eigen Fleisch und Blut war, denn die Gestalt, die ihr im Traum erschienen war, hatte nichts von dem süßen Bengel gehabt, der ihr jetzt so sehr fehlte, mehr, als sie sich einzugestehen bereit war. Die Träume indes waren intensiv gewesen und hatten ihr schreckliche Angst eingejagt. Selten hatte sie denselben Traum zweimal, doch die Grundelemente waren immer dieselben. Ihre Haut war schwarz vom Feuer eines riesigen brennenden Dornbuschs, der sie weit forttrug aus ihrer gewohnten Umgebung. Aus ihrer erhöhten Position konnte sie das Siegel erkennen, das die Fegefeuer der Erde eingebrannt hatten. Die Zeichen und Formen waren dieselben wie auf den Körpern der Engel. Auch ihr Sohn trug in ihren Träumen diese Zeichen, und sie schienen in einem unheiligen Licht von innen heraus zu pulsieren, bis sie aufbrachen und den makellosen, jugendlichen Körper ihres Sohnes in tausend Fetzen rissen. Doch da war stets noch ein Mann. Er war älter als der Jüngling und trug eine einfache bräunliche Robe, langes, glattes Haar in derselben Farbe und einen Vollbart, der weite Teile seines Gesichts bedeckte. Wo seine Füße den Boden berührten, schälten sich fossile Zeugnisse früherer Zeitalter aus dem Stein, als habe man sie mit Hammer und Pinsel fein säuberlich freigelegt. Dieser Mann machte Isabella noch mehr Angst, als es die furchtbare Gestalt ihres grotesk verzerrten Sohnes vermochte. Doch nicht seine äußerlichen Merkmale waren es, die sie mit Furcht erfüllten, sondern sein Wesen, das ihr einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Er war es aber auch, der ihr stets Trost spendete und ihr die Last ihres Schicksals von den Schultern nahm.
Was auch immer ihre Träume ihr sagen wollten, sie spürte, dass etwas geschah. Etwas, das sie nicht klar fassen konnte. Anfangs hatte sie ihr Gefühl abgetan und die Jünger des Morgenstern mit ihren apokalyptischen Prophezeiungen und ekelhaften Ritualen dafür verantwortlich gemacht, sie verwirrt und beeinflusst zu haben. Sie hatte von Anfang an mit all dem nichts zu tun haben wollen, doch sie musste. Im Namen der Sache. Die Herrschaft der Angelitischen Kirche musste ein Ende finden, um jeden Preis. Was danach geschah, war zweitrangig.
Als die Tür zum Versammlungsraum sich öffnete und Nestor den Raum ohne ihren Sohn betrat, wusste Isabella auch ohne seinen Bericht gehört zu haben, dass er keine guten Nachrichten brachte.
„Er ist entkommen.“ Nestor gelang es nicht, der Mutter seines Schützlings in die Augen zu blicken. Die Temperatur im Raum schien schlagartig um einige Grade zu sinken, so dass der Riese sich gezwungen sah, sich schnell zu erklären. „Wir hatten ihn beinahe, aber er hatte Hilfe.“
Der Nachsatz schien seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn Isabellas Kopf ruckte plötzlich nach oben, nachdem sie zuvor in ihrer üblichen Art einen runden Rücken machte und sich wie eine Katze auf der warmen Ofenbank streckte. Ihr Blick fing den Nestors ein, und der breitschultrige Mann wartete nicht ab, bis die Diadochin von Cordova die Frage, die er in ihren Augen las, mit den Lippen ausformulierte.
„Ich glaube, es war ein Engel“, platzte er heraus.
Isabella richtete sich zu voller Größe auf, was angesichts der enormen Ausmaße Nestors in ihren Augen zu keinem wirklich zufriedenstellenden Ergebnis führte. „Was soll das heißen, du glaubst, es war ein Engel? War es einer oder nicht? Es ist ja nun nicht allzu schwer zu erkennen, ob er riesige Schwingen auf dem Rücken trägt oder nicht, oder was meinst du?“
Der dunkelhäutige Mann verzog das Gesicht. Er mochte es nicht, wenn Isabella ihn behandelte, als sei er ein Vollidiot und könne nicht eins und eins zusammenzählen. Es war eben kompliziert. „Nun, er hatte Flügel, aber er sah dennoch nicht aus wie ein Engel. Er trug so etwas wie eine Rüstung. Sein Körper reflektierte das Licht, als habe er einen Anzug aus Eisen an.“
Wie ein Blitz durchzuckte es Isabella. Bei den Worten Nestors musste sie an Thariel denken. Sie hatte den Vater ihres Sohnes lange nicht gesehen, sehr lange, doch als er sie verlassen hatte, da hatte
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