Apocalyptica
hätte gekämpft, dessen war sie sich sicher. „Nein“, antwortete sie kleinlaut, und Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
„Siehst du? Was bringt es da, wenn ich vor dir auf die Knie sinke und dich anflehe zu bleiben? Am Ende wäre das Ergebnis dasselbe.“ Mertin schob die Hände in die Seitentaschen seiner Robe, um sie zu verbergen. Sie sollte nicht sehen, dass er zitterte.
„Wahrscheinlich hast du recht. Vermutlich hätte ich mich nur geschmeichelt gefühlt, wenn ich gewusst hätte, dass mich jemand vermisst.“ In dem Augenblick, in dem sie es ausgesprochen hatte, wusste Lâle bereits, dass es unfair war, was sie tat. Er hatte ihr nichts getan. Dennoch legte sie einen anklagenden Ton in ihre Antwort. Doch sie konnte nicht anders. Sie brauchte ein Ventil, um mit dem Schmerz und dem Aufruhr in ihrem Inneren klarzukommen. Wenn sie ihn nicht beschuldigen konnte, dann hätte sie sich selbst beschuldigen müssen, und sie war sich sicher, dass sie über kurz oder lang an den Folgen zerbrochen wäre.
Unterdessen hatte sie ihre Emotionen nicht mehr unter Kontrolle. Tränen liefen ihr unaufhaltsam die Wangen hinab, und ihre Stimme klang nasal. Sie konnte Mertin nur noch verschwommen erkennen, als sie sich umdrehte, um hinauszugehen.
„Sehen wir uns wieder?“ Die Stimme des Monachen klang gewohnt sanft, und nur wenigen wäre die tiefe Verzweiflung in ihr aufgefallen, die in den Worten mitschwang.
Die Antwort war mehr ein ersticktes Schluchzen als ein klarer Satz, doch Lâle musste hinaus. Sie hielt den Druck, der sie zu zerbrechen drohte, nicht mehr aus. Was hätte sie auch antworten sollen? Sie wusste es nicht. Sie lief los. So schnell ihre Röcke es zuließen, legte sie den Weg vom Haupthaus bis in die Gärten und die darin befindlichen Häuser der Heilung zurück. Vorbei an siechen und kranken Menschen, vorbei an Beginen und Monachen, die ihr teils verständnislos, teils mitleidig hinterherblickten. Menschen, die sie in den vergangenen fünf Jahren als ihre Familie angesehen hatte. Sie rannte, weil sie hoffte, so die Wut und die Verzweiflung aus ihrem Körper vertreiben zu können, sah aber bald ein, dass ein kurzer Spurt dazu kaum in der Lage wäre, auch wenn er einem kurzfristig ein gutes Gefühl vorgaukelte. Allein die Zeit konnte ihr helfen, mit alldem fertigzuwerden.
Kurz bevor sie an ihre kleine Hütte kam, vor der ihre Tochter und die vier anderen warteten, hielt sie inne, um zu verschnaufen und ihre Tränen zu trocknen. Sie wollte Schawâ nicht zeigen, wie erschüttert sie war. Ihre Tochter konnte von allen Beteiligten am wenigsten für ihre Lage.
Betont ruhig und mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen stieß Lâle schließlich zu ihrer Reisegruppe. Nachdem sie Schawâ kurz in die Arme geschlossen hatte, wandte sie sich dem Wanderer zu. „Wir sind soweit. Es kann losgehen.“
Der Wanderer nickte und übernahm die Führung. Schawâ hüpfte vor Lebensfreude an der Hand ihrer Mutter auf und ab und sang ein Lied, das sie sich selbst ausgedacht hatte.
Kurz bevor sie das Sebaldus-Stift endgültig verließen, blickte Lâle sich noch ein letztes Mal um. Bruder Mertin stand im Türrahmen des Haupthauses und sah in ihre Richtung. Sein Gesicht war eine steinerne Maske. Er sah alt aus. Lâle konnte seinem Blick nicht lange standhalten.
„Leb wohl, Geliebter“, murmelte sie nur, als sie sich der Straße zuwandte und mit weit ausgreifenden Schritten zum Wanderer und seinen Begleitern aufschloss.
Isabella hatte sich nach ihrem Wutausbruch Stunden zuvor wieder auf das konzentriert, was sie am besten konnte – regieren. Die Welt stand ihr zuliebe nicht still, und die Geschehnisse der letzten Tage waren es wert, dass man ihnen ihre gesamte Aufmerksamkeit widmete. Es fiel ihr nicht leicht, sich angesichts des ungewissen Verbleibs ihres Sohnes auf das Wesentliche zu konzentrieren, doch sie biss die Zähne zusammen und widmete sich wieder den Berichten ihrer Vertrauten und Wachen, um sich ein Bild der Gesamtlage machen zu können.
Der Angriff der Traumsaat auf ihre Männer auf der Seeterrasse, der zeitlich mit der Flucht ihres Sohnes zusammenfiel, war bislang der einzige Übergriff, den sie zu verzeichnen hatten. Insgeheim befürchtete die Diadochin von Cordova einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorkommnissen. Sie hatte Träume und Visionen gehabt, die sie bis ins Mark erschütterten und über die sie mit keinem sprach. Genau genommen fürchtete sie sich davor, mit jemandem zu sprechen –
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