Apollofalter
Vergangenheit ließ sich nicht mehr korrigieren. Aber das hieß nicht, dass Veränderungen unmöglich sein sollten. Man durfte nur nicht den Glauben an sich verlieren.
Er nahm den kürzesten Weg zurück. Je mehr er sich dem Löwenhof näherte, umso mehr verflüchtigten sich seine positiven Gedanken. Die alte Lingat hatte ihn schon ein paar Mal so merkwürdig angesehen. Manchmal tauchte sie unvermittelt aus dem Nichts vor ihm auf und stellte sich herausfordernd vor ihn hin. Mit diesem wissenden Blick und einer rechthaberischen Miene. Ein Blick, der ihm bis ins Mark ging und ihm jeglichen Mut und jegliches Selbstvertrauen nahm. Und der ihn dazu aufforderte, darüber nachzudenken, ob es nicht doch besser wäre, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
Als er fast unten angelangt war, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Vor ihm schwebte ein Apollofalter. An dieser Stelle, so nah bei den Häusern, hatte er noch nie einen beobachtet. Aber es war wirklich ein Apollo mit charakteristischen orangeroten Flecken auf den Rückenflügeln. Beim genaueren Hinsehen erkannte er, dass es ein Weibchen war. Taumelnd fiel es vor ihm zu Boden, wo es hilflos mit den Flügeln schlug. Fasziniert beobachtete er den Todeskampf dieses wunderschönen Geschöpfes, das sich noch einmal um die eigene Achse drehte, bevor es mit letzten kraftlosen Flügelschlägen noch ein paar Mal zuckte, um dann reglos liegen zu bleiben.
Er bückte sich und hob den Schmetterling mit größter Vorsicht auf. Fast andächtig betrachtete er den toten Falter. Ein wunderschönes Exemplar, das dem ewigen Schlaf übergeben worden war. Er würde ihn mit auf den Löwenhof nehmen, um ihn zu präparieren. Bei seinem Anblick empfand er kein Bedauern. Das ist der Lauf der Dinge. Die Natur hat es so eingerichtet, dass nichts ewig währt. Apollofalter sind Sommergäste auf dieser Erde. Die Zeitspanne eines jeglichen Lebewesens ist begrenzt. Es endet immer mit dem Tod. Welch banale Weisheit.
10
»Da hat einer gekotzt.« Frankenstein in seinem weißen Overall richtete sich auf. »Warst du das, Franca?«
Sie verrollte die Augen und hob die Schultern.
»Hab ich’s mir doch gleich gedacht.« Er grinste. Franca und er waren schon ziemlich lange Kollegen. Da kannte man einander. Manchmal besser als einem lieb sein konnte.
Im zivilen Leben hieß der Kollege von der Spurensicherung Frank Stein. Mit seiner Größe und dem imposanten Äußeren, vor allem aber mit den schadhaften Zähnen und den eckigen Bewegungen erinnerte er ein wenig an das Filmmonster, was ihm seinen Spitznamen eingebracht hatte. Im Koblenzer Polizeipräsidium sprach man nur von ›Frankenstein‹, so sehr hatte sich jeder an diesen Namen gewöhnt. Schon seit Ewigkeiten wollte er seine Zähne richten lassen – zumindest sprach er immer davon. Was ihn davon abhielt, war die Angst vor dem Zahnarzt. Das hatte er Franca einmal in einer stillen Minute anvertraut.
»Viel zu schöne Landschaft, um zu sterben«, sagte er jetzt und sah hinunter ins Tal, wo gerade ein weißer, voll besetzter Ausflugsdampfer auf der Mosel in Richtung Koblenz fuhr. Franca folgte seinem Blick. Ein buntes, lichtdurchflutetes Bild aus einer heilen Welt bot sich da. Die dort unten ahnten nicht, dass hier oben ein Kind zu Tode gekommen war. Wie sollten sie auch?
Das Gelände war inzwischen abgesperrt. Vögel waren verscheucht und zahllose Eidechsen aufgeschreckt worden. Frankenstein und der lange Norbert in ihren weißen Anzügen stakten um den Heckenrosenbusch herum. Bückten sich ab und zu, um etwas einzusammeln und in ihren Plastiktüten zu verstauen.
»Wo genau hast du das Handy gefunden?«, wollte Frankenstein jetzt wissen.
Franca zeigte ihm die Stelle, wo er eines seiner Nummerntäfelchen in den Boden steckte. »So und jetzt leg das Handy schön wieder dahin, damit wir unsere Bildchen machen können.«
Der lange Norbert fotografierte. Ein burschikoser, hochaufgeschossener Typ mit einer Adlernase, die besonders im Profil bemerkenswert war. Neuerdings trug er die Haare millimeterkurz geschoren, auch der goldene Ring im rechten Ohrläppchen war noch etwas ungewohnt. Was einige Kollegen dazu verleitet hatte, zu frotzeln, er sei von der Schwulenfraktion. Franca wusste jedoch, dass Norbert eine neue Freundin hatte, mit der er händchenhaltend durch die Gegend lief. Und neue Freundinnen verleiten nun mal zur Typ-Veränderung.
Norbert fotografierte und fotografierte. Damit nichts vergessen wurde. Damit auch die winzigste
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