Apollofalter
hingerichtet.« Während sie dies sagte, roch er ihren Duft nach Vanille und Honig. Der Duft junger, unschuldiger Mädchen. Betrachtete ihr glänzendes Haar, das sie wie so oft zu zwei Zöpfchen geflochten trug. Mit dem Mittelfinger strich er ihr sanft über die Wange, die zart war wie Aprikosenflaum. Lächelnd öffnete sie die Lippen, um sie mit der Zungenspitze zu befeuchten. Lippen, die nach Nektar schmeckten. Nach süßem verderblichem Gift.
»Heutzutage sieht man das mit den Hexen etwas anders«, hörte er sie sagen. »Bei uns in Winningen haben wir nämlich nicht nur eine Weinkönigin, wie alle anderen, sondern auch eine Weinhex.«
Ein ernüchternder Moment, der jeglichen Zauber ersterben ließ.
»Weinhex? Das musst du mir erklären.«
»Eigentlich ist es ein uraltes Lied. Das wird immer bei der Eröffnung von unserem Moselfest gesungen. Alle versammeln sich dann am Weinhexbrunnen unten im Dorf. Weißt du überhaupt, dass Winningen das älteste Weinfest in ganz Deutschland hat? Es dauert zehn Tage und zum Abschluss gibt’s jedes Mal ein Riesenfeuerwerk.« Sie sagt es mit Stolz in der Stimme. Ihre Augen leuchten. »Andi, du musst bis zum Moselfest hier bleiben.« Sie umfasst ihn mit beiden Händen. »Bitte!«, fleht sie mit herzerweichender Inständigkeit. Ein kindlich bettelnder Ton, mit dem sie ihn umgarnt. Einwickelt. Ihn willenlos macht.
Ein ungewohntes Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit nach oben. Hoch über ihm zwischen dem Gehölz sah er einen Turmfalken, der mit breit gefächerten Schwanzfedern in der Luft zu stehen schien. Seine Flügel schwangen hastig hin und her und zeigten an, dass er nach Beute Ausschau hielt. Es war ein Männchen, wie Kilian an der hellgrauen Kopffärbung erkennen konnte. Während er weiterging, hob er immer wieder den Blick und beobachtete den Turmfalken. Irgendwann war er verschwunden.
Die lichte Baumlandschaft auf dem Plateau, durch die der asphaltierte Weg führte, mündete wieder in Weinberge, die sich bis hinunter ins Tal zogen. Dazwischen führte ein schmaler Pfad bergab. Den Blick auf den Boden gerichtet, achtete er auf seine Schritte.
Schon öfter waren ihm verschiedenfarbige Plastikteile aufgefallen, die verstreut zwischen dem Geröll lagen. Hannah hatte ihm erklärt, worum es sich dabei handelte. »Das sind Pheromonampullen. Die benutzt man, um die Traubenwickler zu bekämpfen. Das sind die schlimmsten Rebstockschädlinge, die wir kennen. Wenn man nichts dagegen tut, fressen sie alles kahl. Egal ob Blüte, Früchte oder Blätter, vor nichts machen sie Halt.« Sie hielt den Blick fest auf ihn gerichtet. »Weißt du, wie so was funktioniert?«
Er lächelte. Natürlich wusste er, was Pheromonfallen bewirkten, aber er hörte ihr nur allzu gern zu, wenn sie mit altklugem Gesichtsausdruck wie eine Lehrerin dozierte, die ihrem gelehrig lauschenden Schüler etwas beibringen will.
»Es ist eine rein biologische Bekämpfung. Die Pheromonampullen strömen einen Sexuallockstoff aus, der die Motten verwirrt. Wenn der Duft überall in der Luft liegt, wissen die Männchen nicht mehr, wo sie hinfliegen sollen. Im Endeffekt können sie die Weibchen nicht befruchten, weil sie sie nicht mehr finden. Ganz schön schlau, oder?« Sie kicherte. »Manchmal muss man der Natur ein wenig ins Handwerk pfuschen, um das zu erreichen, was man will.«
Wie gern hörte er ihr zu. Sie hatte ihn gelehrt, die Welt mit ganz neuen, frischen Augen zu betrachten. Bisweilen klang das, wovon sie überzeugt war, ausgesprochen kindlich, stellte er oftmals mit einem nachsichtigen Lächeln fest. Aber manches war auch von einer Reife durchdrungen und von einer tiefen Einsicht in das Wesen der Dinge, wie man es selten bei solch einem jungen Menschen vorfand.
Manchmal brachte sie ihre Schulbücher mit in die Weinberge, um ihm zu zeigen, was sie gerade im Unterricht durchnahmen. Dann machte er sich einen Spaß daraus, sie abzufragen. Aber nur selten wusste sie eine Frage nicht zu beantworten.
Die Futterstellen des Apollofalters kannte sie genau. »Hier ist ein ganzer Busch Flockenblumen. Und wilder Majoran. Das müssen die einfach riechen«, hatte sie zu ihm gesagt, wenn sie wieder einmal Stunde um Stunde auf die Schmetterlinge gewartet hatten. »Früher oder später kommen sie hier vorbei. Du musst nur Geduld haben.« Irgendwann wurden sie dann tatsächlich belohnt und er konnte mit seiner Filmkamera ein paar dieser fragilen Wesen festhalten.
Er hatte ihr viel von früher erzählt, von seiner Kindheit
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