Apollofalter
sie nicht kannte. Und den sie in ein wunderschönes Phantasiebild gepresst hatte, das sie glühend verehrte. Dass es jemand aus dem Dorf sein könnte, ahnte sie nicht. Jedenfalls hatte sie dies ihm gegenüber nicht geäußert.
»Und wie kommen Sie darauf? Ich meine, dass es jemand aus dem Dorf sein könnte?«
»Ich hab Marion einmal beobachtet«, sagte Irmchen. »Und ich hab sie danach zur Rede gestellt. Aber sie hat alles abgestritten. In dieser Hinsicht ist sie genauso ein Sturkopf wie unser Vater einer war.« Sie hob den Kopf. »Aber natürlich hat sie ein Recht darauf zu leben wie sie es will.« Irmchens Stimme nahm einen überraschend festen Tonfall an. »Auch wenn dieses Leben vielleicht nicht jedem gefällt.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, bestätigte er.
Erneut fing Irmchens Doppelkinn an zu zittern. »Unsere Kleine fehlt mir so schrecklich. Ihre fröhliche Art. Ihre Umarmungen.« Ein Beben lief durch Irmchens schweren Körper. »Ich bin an allem schuld«, schluchzte sie. »Ich ganz allein.« Sie verbarg ihren Kopf in den Händen.
Er horchte auf. »Wie meinen Sie das?«, fragte er.
»Ich war es doch, die sie hoch geschickt hat ins Brückstück. Sie sollte nach der Ausbildung der Trauben sehen. Wenn ich sie nicht hochgeschickt hätte, wäre sie vielleicht noch am Leben.«
»Es ist ganz bestimmt nicht Ihre Schuld«, redete er beruhigend auf sie ein. »Niemand hat das voraussehen können.« Er nahm einen Schluck Kaffee. Er schmeckte bitter. Ganz entgegen Irmchens sonstiger Art, Kaffee zu brühen.
Er beobachtete, wie sie mit ihrem dicken Finger Muster auf die Tischdecke malte. Wie sie sich immer wieder nervös durch das Haar fuhr, das keine Frisur mehr war, sondern ein aufgeplusterter Wust von unordentlich gebändigten Locken, mit dem halbherzigen Versuch, eine Farbe gegen das Grau zu setzen.
Mit einem Mal verspürte er den dringenden Wunsch wegzufahren. Weit weg zu flüchten. Irgendwohin, wo ihn niemand kannte.
»Irmchen, glauben Sie, ich könnte mir für heute eines Ihrer Autos ausleihen?«, fragte er.
Sie hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. Noch nie hat er einen derartigen Wunsch geäußert. Er ist ein Gast, der lange genug anwesend ist, dass man einander kennt. Und vertraut. So hofft er zumindest.
Sie nickte. »Sie können den Toyota haben. Ich glaube nicht, dass den heute jemand braucht. Und wenn, haben wir ja immer noch den Geländewagen«, sagte sie und übergab ihm Schlüssel und Papiere. »Wissen Sie schon, wann Sie wieder zurück sein werden?«
Er hob die Schultern. »Ich werde mich beeilen«, sagte er und vermied, ihr dabei ins Gesicht zu sehen.
Wenig später rückte er den Sitz des Toyota zurecht und drehte den Rückspiegel in Position, bevor er den Zündschlüssel ins Schloss steckte. Wie ein Känguru machte der Wagen einen Satz nach vorn. Der Motor erstarb. Gut, dass das Auto unten an der Straße stand und nicht vor dem Hoftor. Ihm war der Schweiß ausgebrochen. Mit seinem karierten Taschentuch wischte er sich über die Stirn. Dann sah er sich um und hoffte, dass niemand seinen Fehlstart bemerkt hatte. Besonders der Alten wollte er nicht begegnen. Wie die ihm immer hinterher sah. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie Irmchen die Hölle heiß machte, weil sie ihm den Wagen ausgeliehen hatte. Aber was ging es ihn an? Er hatte aufgehört, diese Familie mit ihren schwelenden Konflikten analysieren zu wollen. Familie, er schnaubte. Die Lingats waren ein schönes Beispiel von Zwangsgemeinschaft. Jeder von ihnen hätte theoretisch die Möglichkeit, auszubrechen. Aber keiner tat es. Der Teufel wusste, warum. Vielleicht brauchten sie dies. Das tägliche Drama. Die unterschwelligen Vorwürfe. Die mehr oder weniger offen ausgesprochenen Vorhaltungen. Vielleicht war es das, was ihrem Leben einen Sinn verlieh.
Er versuchte ein zweites Mal, den Wagen zu starten. Diesmal trat er vorsichtig auf das Kupplungspedal, legte den Gang ein und ließ die Kupplung langsam los. Gemächlich rollte der Wagen den asphaltierten Weg entlang. Er konzentrierte sich auf das Fahren und fuhr in gemäßigter Geschwindigkeit durch die engen Straßen des Ortes, die von üppig wucherndem Weinlaub überspannt waren. Erschrocken trat er auf die Bremse, als plötzlich ein Traktor aus einer Seitengasse hervortuckerte. Der Fahrer fuhr einfach weiter und beachtete ihn gar nicht.
Kilian atmete durch. Nach ein paar hundert Metern fühlte er sich ein wenig sicherer. Als die Straße sich gabelte, zögerte er. Kurz
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