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Apollofalter

Apollofalter

Titel: Apollofalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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darüber?«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Warum gibt sie mir das Gefühl, ich hätte nicht richtig auf meine Tochter aufgepasst? Warum?«
     

17
    Bilderfolgen flackerten durch seinen Kopf. Warfen Schatten und Schatten von Schatten. Ein schwarzweißes Geflimmere wie in alten Filmen.
    Er dachte an Hannahs anmutige Bewegungen, wie die Schwingen eines Schmetterlings, so hatte sie die Hände bewegt, wenn sie sich durchs Haar fuhr. Flattrig und leicht. Und manchmal hatte sie ihn dabei angeschaut wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Mit diesem hungrigen Blick. »Nimm mich in deine Arme«, sagten ihre aquamarinblauen Augen, in denen er zu ertrinken glaubte. »Sei mein Freund. Sei mein Vater. Sei der Mensch, der nie für mich da war. k omm her zu mir.« Und dann, nachdrücklicher: »Hab mich lieb! Bitte, bitte hab mich lieb.«
    Dieses bettelnde Lächeln unter gesenkten, langbewimperten Lidern hatte ihm fast den Verstand geraubt. Heute glaubte er, dass sie es bewusst eingesetzt hatte. Einfach, weil sie die Wirkung ihrer Blicke auf ihn erkunden wollte. Testen, wie weit sie gehen konnte. Es fiel ihr offenbar leicht, die kokette Verführerin im nächsten Augenblick gegen das unschuldige Kind zu tauschen. Manchmal gelang es ihr auch, beides miteinander zu vermischen. Die Kindfrau. Schamlos verschämt. Ihn lockend und sofort wieder auf die Finger klopfend. Vielleicht war es das, was ihren Reiz ausmachte. Dass er nie genau wusste, woran er bei ihr war. Welche Rolle sie gerade spielte.
    Die Sehnsucht nach ihr war übermächtig. Der Drang, die übrige Welt auszublenden. Was ging das die anderen an? Was? Viel zu lange hatte er mit sich gekämpft. Eine schier unmenschliche Kraftanstrengung hatte das gekostet.
    »Komm her zu mir!«
    War das nicht eine deutliche Aufforderung?
    Anderen die Schuld geben, das hast du schon immer gut gekonnt!
    Er zuckte zusammen. Wer hatte das zu ihm gesagt? War es seine Mutter gewesen oder Edith, seine Frau. Eine liebe, anständige Frau, die lange zugeschaut hatte, bis sie das Leben mit ihm nicht mehr aushielt. Wie sie sagte. Zugeschaut habe sie und zugedeckt und sich ewig entschuldigt. Für Vorkommnisse, die ihr Mann zu verantworten hatte. Wenn er wieder mal im Suff heimgetorkelt war, am Morgen unfähig aufzustehen, hatte sie entschuldigende Telefonate geführt. »Mein Mann fühlt sich nicht gut. Nein, nichts Schlimmes. Ich denke, morgen ist er wieder auf den Beinen.«
    Verkatert wie er war, wankte er aus dem Schlafzimmer und wagte nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. Weil er den Vorwurf darin nicht ertragen konnte. Diesen Vorwurf, dass das Leben mit ihm eine Qual war. Sie halte diese Lügen und Vertuschungen nicht mehr aus, rief sie ihm mit überkippender Stimme hinterher. Bis sie eines Tages ihre Drohung wahrmachte und einfach nicht mehr da war.
    Ich bin ein Säufer, ein Nichtsnutz, ein Versager. Hinter mir liegt ein verpfuschtes, versoffenes Leben.
    Wie lange es gedauert hatte, bis er sich dies endlich selbst eingestehen konnte. Bis er endlich aufwachte aus seinem Tran und merkte, dass alles verloren war. Dass er ganz unten angekommen war. Tiefer konnte man nicht mehr fallen. Und es war niemand da, der schützend die Hand über ihn hielt. Als ihm das so richtig zu Bewusstsein gekommen war, hatte er sich endlich hochgerappelt. Und tatsächlich keinen Tropfen mehr getrunken.
    Eine unsägliche Kraftanstrengung. Wie oft war er versucht gewesen, wieder zur Flasche zu greifen. Doch er hatte widerstanden. Er war seinem Vorsatz treu geblieben, keinen Alkohol mehr anzurühren. Es war ihm gelungen, aus eigener Kraft wieder hochzukommen. Zurückzukehren in die Normalität. In ein Leben voller kleiner Wunder, das so viele Überraschungen für ihn bereithielt. Wie stolz war er da auf sich gewesen.
    Er besann sich sogar wieder auf seine alten, jahrelang vernachlässigten Leidenschaften, dem Lesen der Klassiker. Und dem Beobachten von Schmetterlingen. Er setzte sich neue Ziele.
    Willst du das wirklich alles wieder aufs Spiel setzen?
    Die Gedanken rumorten in seinem Kopf. Drängten an die Oberfläche. Er war überzeugt gewesen, es stünde in seiner Macht, die Zeit anzuhalten. Hier in diesem Niemandsland. Wie blöd war er eigentlich zu glauben, dass man mit Mitte Fünfzig noch einmal von vorn anfangen konnte?
    Die Vergangenheit kann man nicht verleugnen. Sie holt dich überall ein.
    Schämst du dich nicht?
    Das Echo dieser Worte würde ihn überall hin verfolgen.
    Schämst du dich denn gar nicht?
    Er versuchte,

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