Apollofalter
die Gedanken wegzudrängen, die sein Inneres zu vergiften drohten. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen und ging den Uferweg entlang. Irgendwann kehrte er um und schlenderte den gleichen Weg zurück. Die Gedanken waren noch die gleichen wie vorher. Immer wieder spülte etwas von ihrer zerstörerischen Substanz an die Oberfläche.
Er bemerkte, dass die beiden Mädchen verwundert zu ihm herüber sahen. Vielleicht hatte er laut gesprochen oder gar aufgeschluchzt. Nach nichts war ihm so sehr zumute wie nach Heulen. Nach den-Kopf-in-den-Sand-stecken. Er schluckte hart. Die Zunge klebte ihm am Gaumen fest.
Er brauchte unbedingt etwas zu trinken.
Der Drang ließ sich nicht länger zurückhalten. Er riss die Tür des Toyota auf, griff in die Plastiktüte und schraubte zitternd den Verschluss des kleinen Fläschchens ab, sich bereits in diesem Augenblick den folgenden Genuss vorstellend. Gierig setzte er das Glas an die Lippen und trank. Als die Flüssigkeit die Kehle hinunterrann, war es ihm, als trinke er Nektar, süßen, vergessenmachenden Nektar. Er schluckte und schluckte, bis das Fläschchen leer war. Beruhigt sah er, dass noch viele Fläschchen da waren. Er brauchte keine Angst zu haben. Der Stoff würde ihm so schnell nicht ausgehen. Langsam begann er sich besser zu fühlen. Der Alkohol brannte in seinem Magen und wärmte ihn von innen. Ein angenehmes, vergessenes Gefühl. Er schraubte ein neues Fläschchen auf, setzte es an die Lippen. Beim Trinken begannen die Gedanken zu leuchten. Alles, was vorher trüb und dunkel war, erhielt jetzt einen überirdischen Glanz.
Wie hatte er dieses Gefühl vermisst. Diese beruhigende Wohligkeit. Ein Gefühl, das ihm Kraft verlieh und ihn selbstsicher machte. Das die Angst von ihm fernhielt und alles Negative verdrängte. Mit der Flasche in der Hand war die Welt in einen gnädigen Schleier gehüllt. Es gab keine Sorgen mehr. Keine Selbstvorwürfe und keinen Selbsthass.
Du bist kein Schwein, du hast nichts falsch gemacht. Die anderen sind die Schweine. Doch nicht du!
Beschwingt setzte er sich hinter das Steuer. Die Plastiktüte mit den Fläschchen hatte er mit nach vorn genommen. Immer wieder warf er einen Blick auf den Beifahrersitz, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Seine Medizin, sein Lebenselixier, sein Aqua Vitae.
Jetzt fühlte er sich stark genug, dem gesamten Lingat-Clan gegenüberzutreten. Er war bereit, den Kampf aufzunehmen. Er würde ihnen erzählen, wie es wirklich war. Dass ihn keine Schuld traf. Und auch diese Klugscheißerin von Polizistin würde er zu überzeugen wissen.
Den Rhein entlang fuhr er zurück nach Koblenz. Unterwegs hielt er nochmals an einer Tankstelle, um sich zu stärken und um Nachschub zu besorgen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Das Siegerlächeln.
Er wehrte sich nicht mehr gegen die einstürmenden Bilder. Mit angehaltenem Atem sah er zu, wie Hannahs schmaler Körper sich an den seinen drängte. »Andi!«, flüsterte sie zärtlich und umarmte ihn. Schmiegte sich eng an ihn. Ihr Mund, ganz nah dem seinen, flüsterte heiser: »Komm!«
Eine Melodie drängte sich in seinen Kopf. Ein Lied, das sein Vater früher im Männerchor gesungen hatte. Die Gedanken sind frei , begann er leise zu summen. Wer kann sie erraten? Nach und nach fiel ihm wieder der gesamte Text ein. Als ob sich in ihm eine Wahrheit Bahn gebrochen hätte. Sie fliegen vorbei. Wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei.
Mit Schwung trat er aufs Gas. Früher war er viel mit dem Auto unterwegs gewesen. Das Fahren war ein ebenso gutes Gefühl wie das Trinken und wie dieses ein lang vermisstes. Er fühlte sich großartig. Die Welt gehörte ihm. Was machte er sich Sorgen?
Seine Stimme wurde lauter, tönender. Ich denk’, was ich will und was mich beglücket, doch alles in der Still’, und wie es sich schicket. Mein Wunsch, mein Begehren kann niemand verwehren ...
Er begann zu lachen. Es war zu komisch. Dann hörte er die böse Hexe. Eine dunkle Stimme von ganz tief innen. Schämst du dich nicht? Schämst du dich denn gar nicht?
Das Stakkato des Echos hämmerte in seinem Kopf. In seinen Hirnwindungen. Es hörte nicht auf. Hallte und widerhallte und zersprang an seinem Schädel. Ein Gedankengeschlingere. Wie Fahren auf einer Achterbahn. »Doucement«, sagte er. »Doucement.« So hatten früher die Alten gesagt. In dem Dorf, in dem er aufgewachsen war. Nicht weit von der
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