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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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das war tausendmal, tausendmal größer und bedeutungsvoller als Cologne.
    Der Silbersee hat niemandem gesagt, wie sehr ich heimlich mit Jim herumgeknutscht habe an unserem ersten Treffen bei den Dornschlehen. Doch als ich zurückkehrte, da hatte ich einen Knutschfleck am Hals, der prangte wie ein feuchter Karneol auf meiner weißen Haut und ließ sich nur recht und schlecht verstecken unter dem braunen Haar, das aussah wie das von meiner Oma, das Einzige, das ich geerbt hatte von Apollonia.
    Ich schrieb in mein Buch:
    Wichsgritt.
    Dann nichts mehr. Ich versuchte in die Hollen zu gehen, wo war sie nur, Wichsgritt, als Kind wurde ich auch ein Wichsgritt genannt, und ich dachte, das Wichsgritt sei so was wie meine Strickliesel. Was ist denn ein Wichsgritt?
    Das Wichsgritt handelte mit Schuhbändeln und Knöpfen und Hosengummi und Schuhwichse und ging von Schönstein aus über die Dörfer und war nicht so recht gescheit, und meine Urgroßmutter kochte ihr einen Kaffee. Da blieb sie den ganzen Tag in der Küche sitzen, und dann kam noch der Balthese Simon, der allein mit seinen Katzen hauste, und wenn sie ihn kommen sahen, holten sie ihm seinen eigenen Stuhl aus dem Stall, denn der alte Simon ließ unter sich gehen. Das Wichsgritt und der Balthese Simon saßen gerne bei meiner Urgroßmutter in der Küche, und alle saßen gerne dort in der Küche und tranken Kaffee und kriegten ein Schmalzstück oder auch mal einen Krümelkuchen und sahen zum Fenster hinaus, wie die Männer auf dem Zimmerplatz die Böcke herumschleppten und die Balken darauf schlugen und zersägten und verleimten, und fühlten sich wohl.
    – Man kann keinen fortjagen wie einen Hund, hatte mein Urgroßmutter gesagt und hatte für jeden ein gutes Wort, und dann schaffte sie weiter.
    Der Herrgott sah es. Denn mein Urgroßvater Josef saß stets nach getaner Arbeit in seinem Sessel und betete unentwegt den Rosenkranz und bat den Herrgott so inniglich um Hilfe und um seinen Segen und dankte ihm für sein gutes Geschäft, dass der Herr nicht umhin konnte, fortwährend den Zimmerplatz mit all seinem Wohlwollen und seinem göttlichen Wirken beim Sägen und Hobeln und Hämmern zu begleiten.
    Nur meinen Großvater Klemens, den sahen weder das Wichsgritt noch der Balthese Simon, noch der Herrgott persönlich allzu häufig, wie er sich beim Zimmern plagte.
    Denn mein Großvater Klemens, so sagten sie, habe das Arbeiten nicht erfunden. Deshalb habe man ihn zu jedem Hammerschlag und zu jedem Brett, das er über den Zimmerplatz tragen sollte, überreden oder ihm eine Einladung schreiben müssen. Man musste ihn immerzu nötigen und kommandieren.
    Denn mein Großvater hatte nie auf dem Zimmerplatz arbeiten wollen, nicht hämmern, nicht sägen, nicht hobeln, nicht nageln. Er wollte lieber »mit Maschinen«. Es war doch das Jahrhundert der Maschinen, und er wollte Maschinen. Es kamen der Staubsauger, der Dieselmotor, das Luftschiff, das Motorflugzeug und der Rundfunk, und mein Großvater wollte an den großen Erfindungen der Menschheit teilhaben, und wenn sie ihn fragten, was er wollte, dann wiederholte er noch und noch: mit Maschinen. Sie fragten ihn aber nicht. Auf dem Zimmerplatz wurde keiner gefragt. Immerhin hatten sie ja Maschinen, und die größte war die Dampfmaschine, und so gehörte die Dampfmaschine von Jugend an meinem Großvater Klemens und niemandem sonst.
    Schräg unter dem Gatter, das in der Schneidmühle die Bäume fraß, stand im Keller die prächtige schwarze Dampfmaschine und stampfte und zischte. Und Opa Klemens begann seinen Tag, indem er nach dem Dampfkessel schaute. Er füllte Wasser nach, dann machte er Feuer aus den Holzabfällen und schaute auf das Manometer und wartete, bis der Dampfdruck stieg auf fünf bis acht Atü und endlich der harzgeschmierte Treibriemen sich in Bewegung setzte und das alte, mächtige Gatter seine nächtliche Maulsperre beendete und sein baummörderisches Rattern begann.
    Dort wollte mein Großvater bleiben. Bei der Dampfmaschine. Zeitung lesen. Auf das Manometer schauen. Den Treibriemen schmieren. Das Gatter in den ersten Gang schalten, damit es ganz langsam lief und einen Baum nach dem anderen sägte in endlosen Prozeduren und er bloß nicht fortmusste.
    Während das Feuer der Dampfmaschine brannte und das Gatter endlos an den Bäumen sägte, geriet mein Großvater Klemens ins Träumen und dachte darüber nach, selbst eine Erfindung machen. Die tanzenden Sägespäne, die aus den kreischenden, stählernen Zähnen

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