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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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jämmerlich in einem Straßengraben.
    Man hat immer gedacht, es würde meiner Oma danach besser gehen. Doch als ihre Drohungen und Verwünschungen und ihre Wut ins Leere liefen, wusste Apollonia nichts mehr mit sich anzufangen und saß nur noch regungslos mit ihrem schmalen Leib und den unbeweglichen Dickdärmen vor der Zeitung mit den Königshäusern.
    In der herrlichen Küche mit ihren friedlichen Nachmittagen voller Streuselkuchen oder Broten mit Kirschmarmelade wurde auf einmal aus dem Königsfrieden durch die befremdlichen Vorbereitungen der Gemeindeschwester ein womöglich ewig dauerndes Krankenlager im angrenzenden Schlafzimmer mit Nierenschalen, Bettpfannen, Zellstoff, Krankenklingel und Gummiunterlagen.
    Inzwischen war der Knutschfleck auf meinem Hals auf die andere Seite gewandert, und der alte verblasste, ich trug ein Nikituch mitten im Juni und dazu ein weißes T-Shirt mit einem rostbraunen Rand am Ausschnitt, das hatten Jim und ich uns gekauft im Partnerlook. Ich war kurz davor, so verderbt zu sein wie Lydia Kosslowski, und hätte ich einen Lippenstift benutzt, so wäre er schon heruntergeschrabbt bis zum Stumpf, so oft hätte ich ihn neu aufmalen müssen. Jim und ich knutschten in Wällershofen im Jonnies und in der Ellinger Disko mit ihren Stanniolgrotten, bis kein Stanniol mehr funkelte, und wir knutschten am helllichten Tag auf den Wiesen von Scholmerbach hinter den Holundersträuchern und an den Weidehecken und am Schafsbach und bei den Dornschlengerbüschen und auf dem Kappesgarten und unten am Schafsbach und an den Brennnesselmeeren und am dicken Baum, in den der Blitz hineingeschlagen hat.
    Ich war noch nicht viel fort gewesen, und meine Lungen hatten kaum etwas anderes geatmet als Scholmerbacher Landluft, ich kannte nichts anderes als Kappesgarten und Brennnesseln und Schafsbach. Wenn Jim mich küsste, dann berührten seine Lippen Scholmerbach und nichts als reines Scholmerbach.
    Jim aber war … Amerika. Jim war verwegenes … Amerika. Jim war … die ganze Welt. Jim war unser Befreier und die Besatzung, und ich hatte mich mit wehenden weißen Fahnen unterworfen wie mein Großvater Klemens und war wie er jubelnd und ohne Not übergelaufen, kaum dass ein amerikanischer Zipfel irgendwo am Horizont aufgetaucht war.
    Ich hatte Jim noch nie in Uniform gesehen. Nur immer in Jeans und Hemd und Turnschuhen. Und ich betrachtete ihn, wie er dalag im Gras in unserem Partnerlook-T-Shirt aus dem Hosenshop von Wällershofen und wie der Bauch in der Sonne schimmerte. Jim hatte Muskeln, die Amis hatten alle Muskeln und Haltung und stramme Oberkörper, vom Training bei der Army. So was gab es bei uns an der Schule nicht, die Jungs lungerten herum und waren leptosomisch eingefallen mit noch nicht mal zwanzig. Also wirkten die Amis stärker im physischen Sinne, und Jim wirkte ganz außerordentlich, so wie das Plakat im Hosenshop von Wällershofen. Ich war immer noch Jungfrau.
    Wie lange noch?
    Das war hier die Frage. Würde Jim zurückgehen nach Amerika?
    Und ließ er mich dann weinend in Scholmerbach zurück?
    Ich wollte ihm doch nicht alles gegeben haben, wenn er mich dann sitzen ließ.
    Ich war sehr unruhig in meinem Körper, und mein Körper stritt sich heftig mit meiner Seele, und die Seele hatte eine ganz andere Meinung als mein Geist, und für meinen Geist verhielt es sich anders als für meinen Körper, und so kamen wir zu keiner Einigung, und Jim und ich wälzten uns weiter in den Wiesen von Scholmerbach, und es sah nicht gut aus für die Ameisen und die Löwenzahnblätter, für die Mistkäfer und die Kamillen, die wir entwurzelten, und die Erde, die wir aufstießen, und die Zweige, die wir knackten. Der Sommer ging weiter und weiter und ich habe mir Haare ausgerissen und Lippen aufgebissen und die Beine an den Schlehen zerkratzt, aber ich habe meine Jungfernschaft verteidigt und am Ende des Junis war ich noch immer eine, allerdings sehr unordentlich, schmuddelig und zerzauselt.
    Der Hausrat meiner Großmutter war aus Westerwälder Keramik, oder sie hatte Teller aus dem Kaufhaus Schwenn, und ihr Kochgeschirr war blechern und verbeult oder braun verfärbt, und die Löffel und Schüsseln und Brettchen standen mit tausend winzigen Messerschnitten versehen in der Spüle oder im Küchenschrank oder auf dem Herd. Sie hatte einen Tauchsieder für das Kaffeewasser und einen Schneebesen mit einer Kurbel, sie hatte einen Schaumlöffel mit lauter Löchern drin und eine abgeplatzte Porzellanform für Eierkäse,

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