Aquila
der Geschosseinschläge in der
Dielenwand. Der Schütze stand als Schatten knapp drei Meter von Polly und Chandler entfernt, die den Vorhang um sich 295
gewickelt hatten.
Als es wieder dunkel war, bewegte sich der Vorhang erneut, und wieder drangen ein paar Männer ins Zimmer. Drei oder vier weitere hatten sich zu dem ersten gesellt. Chandler hörte, wie sie in dem finsteren Raum gegeneinander stießen. Er wusste, dass Raines in der Lage gewesen wäre, an Ort und Stelle Hackfleisch aus ihnen zu machen, wenn er nicht Bedenken gehabt hätte, dabei auch Polly und Chandler zu erwischen. Er hörte die schweren Atemstöße der Männer, dann ein Klicken. »Granate«, sagte jemand leise.
Er schnappte Polly und tastete mit der anderen Hand nach dem Griff des raumhohen Fensters. Inzwischen standen sie ganz hinter dem Vorhang, mit dem Geruch von Tabakrauch in der Nase, der sich während der Jahre in dem Gewebe festgesetzt hatte. Der Griff gab nicht nach, und er musste mit den Fingerspitzen nach einem Knopf oder Hebel suchen, der die Sperre löste. Schließlich ließ sich der Flügel einige Zentimeter öffnen. Er hätte sich gern mit Polly abgesprochen, doch vorerst mussten sie per Händedruck kommunizieren. Er wartete …
Plötzlich ein Räuspern, dann fiel etwas Schweres auf den Boden und rollte über den Teppich: die Granate. Er war sicher, dass alle übrigen hinter dem Schreibtisch und den schweren Sesseln Deckung gesucht hatten, doch ihn und Polly schützte lediglich der Vorhang.
Jetzt!
Er stieß den Fensterflügel weit auf und zog Polly mit sich auf die Veranda.
Kaum waren sie drei Schritte auf die Brüstung zugerannt, explodierte das Zimmer. Sämtliche Fensterscheiben gingen zu Bruch und flogen ihnen in Splittern um die Ohren, im Mondlicht glitzernd wie silberne mechanische Vögel.
Chandler fühlte sich von der Druckwelle nach vorn gestoßen wie von einer riesigen Hand. Er wurde über die Brüstung katapultiert und landete – halb über und halb unter Polly – leicht 296
lädiert im Gebüsch.
Schreie gellten durch die Nacht. Die Granate war anscheinend nicht in die Diele gerollt, sondern von der Wand abgeprallt und im Zimmer explodiert. An einer Wand brannte es. Die Schmerzensschreie hörten nicht auf, bis plötzlich
Maschinengewehrfeuer einsetzte. Chandler sah die Szene im Geist vor sich, sah Raines im Türrahmen stehen und auf die Sterbenden und Verwundeten zielen.
Er fragte Polly: »Bist du okay?« An seiner Wange klebte Dreck.
Sie wischte sich Erde und Blätter vom Gesicht und sah zu ihm auf: »Klar, Boss. Ich glaube, wir haben erreicht, was wir wollten.«
Er reckte den Hals und warf einen Blick nach oben. Der Kerl auf dem Balkon lehnte über der Brüstung, um zu sehen, was unten los war. Polly griff durch das Verandagitter, und Chandler hörte, wie eine Maschinenpistole über den Steinboden gezogen wurde. Auch der Mann auf dem Balkon hörte es. Er ballerte sofort drauflos und schoss ein paar Löcher in den Zement, während sie in Deckung gingen.
»Kannst du mit so was umgehen?«
»Ist der Papst katholisch?«, fragte er zurück. »Klar, jederzeit.
Maschinenpistole? Habe ich doch fast immer bei mir, du Dummerchen.«
Als er die Waffe in die Hand nahm, überraschte ihn ihr Gewicht. Er kroch durch Buschwerk, Matsch und Glasscherben an der Veranda entlang. Sein Rücken brannte an den Stellen, wo sich Glassplitter durch den dicken Pullover in seine Haut gebohrt hatten. Oben blieb alles still. Die Flammen schlugen höher und warfen zuckende Schatten. Es war, als blicke er in einen Holzofen. Ab und zu waren Schüsse zu hören, aber er hatte keine Ahnung, was eigentlich vor sich ging.
»Chandler?«, rief eine müde Stimme.
»Wenn die beiden hier drin gewesen sind, dann gute Nacht«, 297
sagte jemand leiser. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Doch die Unterhaltung wurde durch eine neue Explosion unterbrochen.
An der Verandaecke hockte Chandler sich hin. »Lauf in den Schatten dort, dann am Waldrand entlang zu den Klippen.
Solange wir im Schatten bleiben, passiert uns nichts.« Er sah hinaus in die Landschaft. »Wir kriegen wieder Nebel …«
Vor ihnen zog die Nebelbank herauf, die so lange unbeweglich hinter dem Trawler und den Hexenzähnen gestanden hatte.
Dicht und undurchdringlich schwebte sie etwa fünfzig Meter vor ihnen im Mondlicht herein, so kompakt, als könnte man sie berühren.
Der Feuerschein hinter ihnen wurde schwächer, während sie über das schlüpfrige Gras auf den Waldrand
Weitere Kostenlose Bücher