Aquila
das einzig wirkliche Erbe unserer Vorfahren. Schon, als ich die Dokumente nur oberflächlich studierte, habe ich mir ein Urteil gebildet. Und gegen dieses Urteil wog ich die Käuflichkeit meiner Auftraggeber auf und überlegte, was diese Charakterzwerge mit den Papieren anfangen würden … Ich sah bereits, wie sie den Inhalt verfälschten und zurecht schneiderten und Leuten in die Hände spielten, die sich nicht mal im Traum vorstellen konnten, welche innere Stärke George Washington und seine Männer brauchten, um den Winter zu überleben; nicht nur zu überleben, sondern am Ende auch zu siegen.« Er setzte sich rasch auf und klopfte auf den Tisch.
»Bei Gott – jeder Mensch hat seine Grenzen, und ich habe meine erreicht. Es hat mir nie was ausgemacht, unsere Gegenwart zu manipulieren, aber in der Zeit der Giganten herumstochern, Dinge von damals verändern? Das geht verdammt zu weit. Ich sage Ihnen, mein Blut ist richtig in Wallung geraten! Sollte der KGB die Dokumente kriegen, um sich einen billigen Scherz zu erlauben? Niemals! Nur über meine Leiche … und ich sage Ihnen, in der ganzen langen Zeit habe ich nichts gefunden, für das sich das Sterben lohnt …«
»Was ist Ihr endgültiges Urteil über Davis’ Brief?«, fragte Chandler.
»Erstens, der junge Mann fantasierte. Er hat in einer Leichenhalle gewohnt, seine Freunde sind gestorben, es gab buchstäblich nichts zu essen und fast keine Hoffnung mehr.
Weiß Gott, was er wirklich gehört hat, als er halb erfroren da stand und vor Angst fast den Verstand verlor? Wir werden es nie erfahren. Und was hat er wirklich gesehen? Einen großen, stämmigen Mann, der ein Papier unterschrieb. Danach ein Schusswechsel, bei dem er sich in die Hose gemacht hat. Der 330
ohne Zweifel mutige Junge stand unter ungeheurem Stress.
Und zweitens kennen wir all die schäbigen Machenschaften jener Zeit, die das Ziel hatten, Washington vom Sockel zu stürzen. Der Mann war ja für einen großen Teil der Bevölkerung wie ein Gott, sie hätten solche Widerwärtigkeiten für keinen anderen erduldet. Es gab viele Gerüchte, Unterstellungen, Anklagen, auch gefälschte Dokumente, um das wahre Gesicht des schrecklichen George Washington zu zeigen …«
Prosser zuckte die Achseln. »Es ist eine Fälschung. George Washington hat das Stück Papier nie unterschrieben … Nat Underhill hätte es erkennen müssen, dann wäre alles nicht passiert. Aber für ihn sollte es echt sein. Ein Schlussstein seiner Karriere. Ich verstehe das …«
Spät am Abend klingelte das Telefon in Chandlers
Arbeitszimmer. Polly hatte gerade ihren Mantel angezogen, um nach Hause zu fahren. Winterliche Kälte lag in der Luft. Sie hatten Prassers Erklärungen mit einer Mischung aus Staunen und Resignation diskutiert und wussten nicht, ob sie über die absurde Nichtigkeit der ganzen Affäre lachen oder weinen sollten. Der Anruf unterbrach ihren Gutenachtkuss.
»Was ist los, Colin, verdammt noch mal! Erst dachte ich, ich bin tot. Dann bin ich zwar am Leben, aber in Quarantäne. Ohne Fingernägel und mit einer Mordserkältung. Hast du schon mal probiert, mit verbundenen Händen ein Kleenex aus der Schachtel zu ziehen? Versuch’s erst gar nicht …«
»Hugh!«, rief Chandler.
»Der alte Prosser war gerade hier, Prosser höchstpersönlich!
Er sagt, mit dir ist alles in Ordnung, und ich werde morgen entlassen. Ich dachte, ich hätte einen Herzanfall gehabt, aber man weiß ja nicht, wie so was ist. Auf jeden Fall hatte ich eine Muskelzerrung und …«
»Morgen?«
»Du schuldest mir einmal Abholen, altes Haus!«
331
SAMSTAG
Chandlers Telefon klingelte erneut am Samstagmorgen um sieben. Er fuhr hoch, als sei er mit Eiswasser überschüttet worden. Wo zum Teufel war Polly? Es gefiel ihm nicht mehr, allein zu schlafen. Stunden hatte er zum Einschlafen gebraucht, nachdem sie gegangen war. Er hatte sie überreden wollen, bei ihm zu bleiben: Sie sollte noch eine Kanne Kaffee aufbrühen in seinem wunderbar renovierten Haus, mit ihm am Küchentisch sitzen und über ihre Erlebnisse reden, aber sie wollte unbedingt gehen. Sie habe auch eine Wohnung, sei gern mal dort allein mit Ezzard, den sie vermisst habe. Er war klug genug gewesen, sie gehen zu lassen. Aber jetzt klingelte das Telefon, und er griff voller Hoffnung nach dem Hörer.
Sie war es. Er freute sich wie ein kleiner Junge und sank lächelnd in die Kissen zurück.
»Colin, mir ist beim Aufwachen etwas Schreckliches
eingefallen: Wir haben Nora Thompson
Weitere Kostenlose Bücher