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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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keine Sekunde. Er griff zum Handy, und zwei Minuten später fand sich ein bärtiger, knapp vierzigjähriger Mann ein, der durch seine seriöse Gelassenheit beeindruckte. »Sie haben den Befehlshaber des SektorsMajdel-Selm vor sich. Er hat sich hier gerade zur Bericht­erstattung eingefunden und wird Sie begleiten«, stellte Scheikh Nabil den Neuankömmling vor, dessen Tarnname Abu Hussein lautete.
    Wir haben Tyros in einem alten Peugeot verlassen. Die Straße schlängelte sich schmal und abschüssig. Abu Hussein taute langsam auf. Er hielt an einer Haarnadelkurve, um mir israelische Positionen und Radarstationen zu zeigen. Um die Mittagsstunde hatte Zahal mit Artilleriebeschuß auf den Sprengstoff-Anschlag von Markaba reagiert. Nennenswerter Schaden war dabei nicht entstanden. Die schiitischen Dörfer am Rande des Kampfgebietes waren von einem Teil ihrer Einwohner verlassen worden. Dennoch ging das Leben in erstaunlicher Normalität weiter. Die jungen bärtigen Männer in Zivil dürften sich bei Nacht in »Gotteskrieger« verwandeln. Bei Tage war ihnen nichts Militärisches anzumerken. »Wir führen nur amerikanische Waffen«, berichtete Abu Hussein, »bei uns finden Sie keine Kalaschnikows, sondern nur M-16-Sturm­gewehre.« Der Partisanenführer, dessen Befehlsbereich sich von der extrem vorgeschobenen Hizbullah-Hochburg Majdel-Selm bis ­Rachat erstreckte – das war der heikelste Abschnitt –, gab recht offen Auskunft über die Bewaffnung seiner Mujahidin: Granatwerfer verschiedensten Kalibers, panzerbrechende Raketen vom Typ Taw, leichte Artillerie und natürlich die unvermeidlichen Katjuschas sowjetischer Herkunft, von denen Abu Hussein nicht allzuviel hielt. »Immerhin überwinden sie eine Entfernung von 22 Kilometern«, sagte er. »Im März 1996 haben wir allein aus unseren Stellungen 300 Katjuscha-Raketen auf die nordgaliläische Ortschaft Kiryat Shmoneh abgefeuert«, brüstete er sich, räumte aber ein, daß die Wirkung bescheiden war. Ob er mir verraten dürfe, wo er seine ­militärische Ausbildung erhalten habe, fragte ich. Aber da lachte er. »Jedenfalls nicht im Südlibanon.«
    Der Abend senkte sich über dem Gebirge. Die Entfernungen zwischen den Fronten waren lächerlich gering. Die umstrittene Besatzungszone war zum Greifen nah. In der zentralen Kampfstellung war kaum eine Spur von Krieg zu entdecken. »Sehen Sie dort ein Gehölzaus Korkeichen zwischen zwei Höhen«, fragte Abu Hussein, »erkennen Sie das quadratische weiße Gebäude nebenan? Dort haben wir heute Morgen unsere Sprengladungen hochgehen lassen. Unmittelbar dahinter verläuft die Staatsgrenze Israels.« Bevor wir uns trennten, lud mich Abu Hussein in ein Imbißlokal amerikanischen Zuschnitts zum Fruchtsaft ein. Immer wieder klangen israelische Granatabschüsse herüber. Die Geschosse schlugen irgendwo in Kilometerabstand ein. Niemand nahm Notiz davon. Unter der blauen UNO-Fahne versahen kleine Kontingente von Fidschi-Insulanern, Iren, Norwegern, Franzosen und Ghanaern Routinedienst. In Nordgaliläa bewegten sich die Gegner auf eine seltsame Pattsituation zu, stellten die Militärbeobachter in Beirut fest: Die Schiiten würden zusehends besser, und der Kampfwert der Israeli ließe nach. Der Judenstaat solle achtgeben, daß er nicht –  toutes proportions gardées  – in ein »Mini-Vietnam« hineinschlitterte.
    Von der Terrasse unserer Snackbar fiel das Gebirge steil zum Meer ab. Die scheußlichen Neukonstruktionen lösten sich gnädig in der Dämmerung auf. Der Blick verlor sich im violettfarbenen Himmel des Heiligen Landes, ruhte auf den grauen Felskuppen, die einer gigantischen, erstarrten Schafherde ähnelten. Ganz unten leuchtete ein Fetzen Meer wie eine Blutlache. Auf halber Höhe zeichneten sich die Konturen einer Kreuzritterburg ab, und gleich daneben wurde eine in allen Farben schillernde Gebetshalle der Schiiten, eine »Husseiniyeh«, hochgezogen. Dazu hallten die Granateinschläge wie dumpfe Schicksalsklänge.
    Zweimal sollte ich noch mit Scheikh Nabil Qaouq zusammenkommen. Er hatte seine Bleibe in dem dürftigen Vorort von Tyros beibehalten. Ich wunderte mich, daß die israelische Luftwaffe, die den Südlibanon unter permanenter Beobachtung hält, dieses Zentrum der Hizbullah noch nicht plattgemacht hatte. Es war Ramadan, aber Qaouq hatte

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