Arabiens Stunde der Wahrheit
über die Lage im Nahen und Mittleren Osten nicht von einem übertriebenen Hang zur Dramatisierunggeprägt? Das fragte ich mich beim späten Drink in der Hotelbar. War ich nicht an den unwägbaren Realitäten des Friedens und des menschlichen Versöhnungswillens vorbeigegangen? Um drei Uhr nachts würde ich mit dem Mietwagen schon wieder nach Norden in Richtung Libanon unterwegs sein.
Als ich nach kurzem Schlaf â benommen und müde â auf den Nachtportier zuging, um meinen Zimmerschlüssel abzuliefern, war der hellwach und aufgeregt. »Es wird nicht einfach für Sie sein, nach Beirut zu kommen«, sagte er. »Soeben ist im Radio gemeldet worden, daà der gewählte libanesische Präsident Beshir Gemayel durch ein Sprengstoffattentat getötet wurde. Wird denn das Morden hier nie ein Ende nehmen? Werden wir Israeli denn niemals in Frieden mit unseren Nachbarn leben können?« Verflogen war jetzt die friedliche Vision von Rafah, der Schalom-Gruà zwischen Israelis und Ãgyptern, die beiden Fahnen, die einträchtig über den Grenzanlagen wehten. Im Libanon war mit dem 35jährigen Beshir Gemayel, diesem hemdsärmeligen, resoluten Maroniten-Führer, nicht nur eine steile politische Karriere ausgelöscht worden. Alle mühÂsamen Verhandlungsresultate zwischen Washington, Fez, Riyad, Jerusalem und Amman waren in Frage gestellt. Neues Sterben kündigte sich an. Für Wunschdenken war kein Vorwand mehr vorhanden. Die politische Wirklichkeit dieser Region offenbarte sich wie ein Gorgonenhaupt, bluttriefend, gnadenlos und ziemlich widerwärtig.
In Begleitung des Hauptmanns Schlomo, der sich durch Kipa und Vollbart als orthodoxer Jude zu erkennen gab, fuhr ich im Jeep durch die menschenleeren Dörfer des Südlibanon. Schlomo lauschte unentwegt der Rundfunksprecherin in Tel Aviv, die mit nervöser Stimme einen Lagebericht verlas. Ich verstand nur ein einziges alttestamentarisches Wort: »Tohuwabohu«. Auf Umwegen über christliche Dörfer erreichten wir den von Maroniten bevölkerten und verteidigten Stadtteil Aschrafiyeh in Ost-Beirut, wo ich mich im Hotel »Alexandre« einquartierte.
Aus meinem Zimmer trat ich auf die Terrasse hinaus. Zu meinen FüÃen lag Beirut. Seit wir uns der Hauptstadt genähert hatten, Âwarendie Explosionen und Einschläge nicht verstummt. Im Westsektor wurde weiter gekämpft. Die israelischen Sturm-Kommandos durchkämmten einen StraÃenzug nach dem anderen. Der Widerstand war sporadisch. Nur ein paar halbwüchsige Freischärler feuerten noch ihre Kalaschnikows und Bazookas auf die vorrückenden Panzerkolonnen Zahals ab. Die Israeli gingen kein Risiko ein. Sie wollten ihre eigenen Verluste niedrig halten. Ihre schweren Tankgranaten rissen gewaltige Löcher in die Etagenhäuser, wo die Zivilbevölkerung â im Keller zusammengedrängt â das Ende des Alptraums herbeisehnte. Das »Alexandre« lag wie ein Feldherrenhügel über der levantinischen Metropole. Rauchwolken verdunkelten den strahlenden Abendhimmel. Die gewaltigen Erschütterungen dröhnten bis Aschrafiyeh, wenn ein Munitionsdepot hochging. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden die Westviertel taghell angestrahlt. Die Leuchtraketen pendelten an Fallschirmen langsam herunter.
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Das Schicksal Israels werde sich an der Nordfront entscheiden, hört man neuerdings in den Redaktionen von Jerusalem und Tel Aviv. Diese Einsicht ist aufgekommen, seit die jüdischen Streitkräfte sich im Jahr 2000 auf Befehl des Regierungschefs Ehud BaÂrak auf die Grenze Galiläas zurückzogen. Das neue »Great Game« ist bereits in dem weiten Raum zwischen dem schiitisch bevölkerten Südlibanon und der mehrheitlich schiitischen Insel Bahrein im Persischen Golf in Gang gekommen. Hier prallen alle nur denkÂbaren Gegensätze aufeinander. Jenseits der brodelnden UngewiÃÂheiten Ãgyptens ruht das Regime des syrischen Präsidenten Assad offenbar nur noch auf den Spitzen der Bajonette. Im Irak entzünden sich immer wieder die konfessionellen Feindschaften. Dazu geÂsellen sich die Schachzüge der saudischen Dynastie, die Präsident Obama unverblümt aufforderte, doch endlich mit der Bombardierung der Islamischen Republik Iran zu beginnen, um deren Einfluà am Persischen Golf einzudämmen. Beim Rückblick sollten wir einen seinerzeit wenig beachteten Vorfall erwähnen, der
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