Arabiens Stunde der Wahrheit
Tauziehen der politischen Kräfte in Bagdad beurteile, frage ich den GroÃayatollah direkt. Mudarissi weià sehr wohl, daà die angeblich vor dem Abzug stehende US-Besatzungsmacht mit allen Mitteln versucht hat, den abtrünnigen, säkular ausgerichteten Schiiten Ayad Allawi im Bündnis mit der überwiegend sunnitischen Partei »Iraqiya« zur politischen Führungsperson in Bagdad aufzublähen. Der Versuch sei gescheitert, weil die divergierenden politischen Tendenzen, sogar die auf offene Konfrontation mit den Amerikanern ausgerichtete »Mahdi-Armee« des Volkstribuns Muqtada es-Sadr, sich zusammengeschlossen hatten.
Eine hohe Meinung von dem amtierenden Ministerpräsidenten Nuri el-Maliki, der sich einst an der Spitze der Daâwa-Bewegung verdienstvoll gegen Saddam Hussein aufgelehnt hatte, besitzt der Mujtahid von Kerbela auch nicht. In seiner Hauza sei man sich bewuÃt, daà die religiöse Entwicklung des Irak durch das Grundübel der islamischen Umma, durch die »Fitna«, die schismatische Entzweiung der Gläubigen, bedroht sei.
Doch statt sich in parlamentarischen Intrigen zu verirren, könnten die Schiiten des Irak zur Not auch auf andere Weise auf die fremdenEinwirkungen reagieren. Damit verweist er auf die groÃen schiitischen Aufstände gegen das britische Mandat in den Jahren 1920 und 1935 sowie die massive Erhebung seines Glaubenszweiges während des amerikanischen Feldzuges »Desert Storm« im Jahr 1991. Damals hatte George Bush senior die schiitischen Milizen des Südirak zur Rebellion aufgerufen. Nachdem die kaum bewaffneten Freischärler tatsächlich die Kontrolle über den schiitischen Siedlungsraum zwischen Basra und Kerbela an sich gerissen hatten, war der US-Präsident diesem von ihm ausgelösten Aufstand in den Rücken gefallen. Er hatte die schiitischen Rebellen dem Massaker durch die noch intakte Republikanergarde Saddam Husseins und dessen Kampfhubschrauber ausgeliefert. Dieser zynische Verrat bleibe unvergessen.
Mohammed Taqi el-Mudarissi erscheint mir sorgenvoller als bei unserem Gespräch vor fünf Jahren. »Die schrecklichste Zeit liegt noch nicht hinter uns«, warnt er. »In der Geschichte hat sich erwiesen, daà nach der Beendigung einer fremden Besatzung die internen Feindschaften, die sich angestaut haben, erst mit aller Gewalt zum Ausbruch kommen. Das groÃe Gemetzel steht eventuell noch bevor.« Es würden sich im Irak zu viele geostrategische Interessen der umliegenden Mächte überlagern und aufeinanderprallen, um eine friedliche Zukunft voraussagen zu können. Ob der Irak auf zentrale Strukturen oder eine zunehmende Verselbständigung der unterschiedlichen Regionen zusteuere, sei weiterhin ungewiÃ. Eines sei jedoch sicher. Bei jeder Regierungsbildung, die in Bagdad nach der Zwischenphase Nuri el-Malikis zustande käme, wäre seine Glaubensgemeinschaft durchaus bereit, sunnitische und kurdische Minister mit wichtigen Ãmtern zu betrauen. Die wirkliche Führung des Staates müsse jedoch in den Händen eines Schiiten liegen.
Ich bin dieses Mal nicht zu einer Diskussion mit den Theologiestudenten, den »Tullab«, über Fragen der Religion, über die Beziehungen zwischen Islam und Christentum sowie die Person Khomeinis eingeladen worden, die Mudarissi vor fünf Jahren in einer historischen Husseiniyeh einberufen hatte. Dafür ist die Stimmung in Kerbela zu angespannt. Zudem lege ich Wert darauf, das Hotel »Andalus«in Bagdad vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Der Abschied von dem GroÃayatollah findet mit der üblichen orientalischen Umarmung statt.
Als wir die AuÃenbezirke der Hauptstadt erreichen, leeren sich bereits die StraÃen. Die Kontrollen durch Polizei und Soldaten in Tarnuniform mehren sich. Das Karada-Viertel, der angeblich harmloseste Sektor der Hauptstadt, ist in ein enges Sicherungsnetz eingesponnen. Mit Erleichterung blicke ich auf die groÃe chaldäische Kirche, die, etwa 300 Meter von unserer Unterkunft entfernt, religiöse Toleranz zu symbolisieren scheint. Das steinerne Kreuz ragt hoch über dem ausladenden Schiff von »Our Lady of Salvation«, der das Gotteshaus geweiht ist. Das Kreuz zeichnet sich deutlich neben dem aufgehenden Halbmond am abendlichen Himmel ab. Zu jenem Zeitpunkt kann ich nicht ahnen, daà nur wenige Tage später, am 31. Oktober 2010, diese christliche Sakralstätte einer
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