Arabiens Stunde der Wahrheit
gegen den Westen statt, mochte der nun im Gewand des gottlosen Marxismus auftreten oder sich vor dem Goldenen Kalb eines entarteten Kapitalismus in den Staub werfen. Als Repräsentanten der beiden gegensätzlichen und doch irgendwie komplementären Tendenzen könnte auf seiten der bedingungslosen Komplizenschaft mit Washington der einfluÃreiche saudische Prinz Bandar erwähnt werden, der in enger geschäftlicher Beziehung zur Präsidentenfamilie Bush und noch mehr zu Vizepräsident Dick Cheney stand. Auf der anderen Seite machte ein gewisser Osama Bin Laden von sich reden, der die religiöse Pflicht zum Jihad verkörperte und unter Hintanstellung seiner zutiefst antiamerikanischen Grundeinstellung sich zunächst gegen die kommunistische Invasion in Afghanistan stemmte. Zu diesem Zweck rekrutierte er eine »Grüne internationale Brigade«, die später unter dem Namen »El Qaida« die Phantasie der westlichen Medien beflügeln sollte. Beim Studium der vertraulichen Unterlagen von Wikileaks über den undurchsichtigen Zustand des saudischen Königshauses stellt sich Boutros die Frage, ob eine so flagrante Doppelköpfigkeit sich auf Dauer aufrechterhalten lasse oder ob das System eines Tages implodieren müsse.
Boutros ist in melancholischer Laune. »Die syrische Besatzung, die uns Libanesen so unerträglich erschien, sind wir jetzt unter dem Druck der âºinternationalen Völkergemeinschaftâ¹ losgeworden«, meint er. »Aber die syrischen Geheimdienste verharren im Untergrund. Rafik Hariri, der in Saudi-Arabien zum Milliardär wurde, hat zwar den Wiederaufbau des verwüsteten Stadtkerns von Beirut mit groÃer Energie vorangetrieben und dabei Unsummen verdient. Aber dieser sunnitische Krösus, den heute die konservativen Kräfte unsererRepublik als Märtyrer der Freiheit feiern, hat auch die verderblichen saudischen Finanzallüren bei uns eingeführt, die Bestechung zum obersten Regierungsprinzip erhoben. Das war nicht neu in unserer politischen Landschaft, aber dem Libanon ist dabei sein einmaliger kultureller Charakter verlorengegangen. Früher blickten unsere Eliten auf das âºQuartier Latinâ¹ von Paris. Heute sind sie auf Wall Street ausgerichtet.«
Ich erzähle ihm von meiner Begegnung mit General Michel Aoun am Vortag in dessen stattlicher Villa oberhalb von Antelias. Die Persönlichkeit des ehemaligen Präsidenten der Zedernrepublik verkörpert alle Widersprüche, die diesen aus dem französischen Mandat hervorgegangenen Staat kennzeichnen. Laut »Pacte national« aus dem Jahr 1943 muà stets ein maronitischer Christ den Posten des Staatspräsidenten bekleiden, während das Amt des Ministerpräsidenten einem sunnitischen Muslim, das AuÃenministerium einem orthodoxen Christen und der Vorsitz des Parlaments einem Schiiten vorbehalten bleibt, während die Sekte der Drusen mit einem Ministerposten bedacht wird. Michel Aoun hatte sich seinerzeit mit Waffengewalt gegen die Bevormundung und die Intrigen der Syrer auflehnen wollen. Doch gegen die dreiÃigtausend Soldaten, die Präsident Hafez el-Assad, der starke Mann von Damaskus, als Kontroll- und Besatzungstruppe entsandt hatte, konnte er sich nicht behaupten und verschanzte sich zuletzt in seinem Palast von Baabda. Er wurde durch einen französischen Hubschrauber vor der Gefangennahme gerettet und über Jounieh nach Paris evakuiert.
General Aoun, in elegantes Zivil gekleidet, war mir mit der üblichen levantinischen Höflichkeit begegnet. Sachlich aufschluÃreich war unser Gespräch nicht. Immerhin hatte dieser politisierende Militär eine erstaunliche Verwandlung durchlaufen. Er hatte â nach seiner Rückkehr nach Beirut â eine Partei ins Leben gerufen, die die christlich-maronitische »Taifa« endlich aus dem herrischen Zugriff der traditionellen Feudal-Clans löste. Er hatte die rivalisierenden Sippen der Gemayel, der Chamoun, der Eddé, der Franjié um ihre bislang unerschütterlichen Positionen gebracht. Tatsächlich konnte er die Mehrheit seiner mit Rom unierten Konfession, die der überliefertenPrivilegien der »grandes familles« überdrüssig war, hinter sich bringen. Mit den Syrern hatte er sich offenbar versöhnt, eine Kehrtwende, die im Libanon durchaus nicht ungewöhnlich war, verhandeln doch in Damaskus die Söhne des Drusenführers Kamal Jumblat und des Plutokraten
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