Arabiens Stunde der Wahrheit
Fanatismus und einer exzessiven Interpretationder koranischen Gesetzgebung, der »Scharia«, bezichtigt wird, beeindruckt mich dieser Beweis religiöser Toleranz gegenüber den »Masichin«, den irregeleiteten Brüdern der »Familie des Buches«, die den Propheten Isa als Sohn eines dreifaltigen Gottes anbeten.
Feisal, den ich auf vierzig Jahre schätze, rückt mit der unvermeidlichen Frage heraus, die mir rund um den Erdball gestellt wird: »Waren Sie schon einmal in unserem Land?« Ich antworte ihm, daà ich seine Heimat zum ersten Mal aufgesucht hatte, als er noch gar nicht geboren war. Die Heimfahrt nach Khartum zieht sich endlos hin, obwohl wir mit mehr als hundert Stundenkilometern durch die sich verdichtende, braune Düsternis rasen. Ich besitze die Gabe, sowohl im Auto als auch im Flugzeug tief schlafen zu können, und lege mein Schicksal gottergeben in die Hände meines Chauffeurs. »Ma schaâ Allah!« Zwischendurch gerate ich in einen halbwachen Zustand, und dann drängen sich sehr präzise Erinnerungen auf.
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So werde ich in das Jahr 1956 zurückversetzt, als ich beabsichtigte, den WeiÃen Nil stromabwärts von Juba aus â unweit der Grenze von Kenia und Uganda â auf einem damals noch recht komfortablen Dampfer bis nach Khartum zu bereisen. Die Niloten-Stämme der Dinka, Nuer und Shilluk â die Namen dieser Völkerschaften waren mir aus dem Unterricht von Sciences Po geläufig â wären mir immer noch in nackter Ursprünglichkeit begegnet. Die immense Dimension, die ethnische Vielfalt dieses neu gegründeten Staatswesens wäre mir plastisch vorgeführt worden. Doch kaum war die Unabhängigkeit der Republik Sudan am 1. Januar 1956 proklamiert, da brachen auch schon die ersten Unruhen aus. In Juba fand im Frühjahr 1956 eine Militärrevolte statt. Die ganze Südregion wurde zum Sperrgebiet erklärt. Ich muÃte tief enttäuscht nach Entebbe zurückkehren, um von dort aus mit dem Flugzeug in die sudanesische Hauptstadt Khartum zu gelangen.
Das Kalkül der scheidenden britischen Kolonialmacht war nicht aufgegangen.Ursprünglich hatte nämlich das Londoner Colonial Office den überwiegend animistischen oder christlichen Stämmen des Südens versprochen, ihnen ein eigenes Staatsgebiet zu überlassen, um sie der Dominanz ihrer muslimischen und arabisierten Landsleute aus dem Norden zu entziehen. Die Zusage wurde von der damaligen Labour-Regierung verworfen, die sich in der Illusion wiegte, die weit verstreuten Kräfte des Arabismus in einer »Liga« zu bündeln und deren Patenschaft zu übernehmen.
Die Selbständigkeit des christlich-animistischen Süd-Sudan war sinnlos geopfert worden, denn schon im Jahr 1952 hatte der Sturz der ägyptischen Monarchie unter König Faruk und der Putsch einer Offizierskamarilla unter Oberst Gamal Abdel Nasser den Weg freigemacht für die Beseitigung jeder fremden Bevormundung und für die utopische Vision einer panarabischen Nation zwischen Marokko und dem Persischen Golf. Auch den Sudan betrachtete der neue »Rais« von Kairo als Bestandteil dieser angestrebten Föderation, und die Massen des ganzen Niltals stimmten Jubelchöre an, als Nasser in einer dröhnenden Kundgebung die Verstaatlichung des Suezkanals proklamierte. Der konservative britische Premierminister Anthony Eden war nicht gewillt, diese Provokation hinzunehmen. Er war entschlossen, mit militärischen Mitteln die WasserstraÃe freizukämpfen und das Militär-Regime des ägyptischen »Obersten«, wie man damals verächtlich sagte, zu stürzen. In Paris zögerte der sozialistische Regierungschef Guy Mollet keine Sekunde, sich mit den Engländern zu solidarisieren. Frankreich stellte eigene Luftlandetruppen für dieses Vabanquespiel zur Verfügung, zumal die Vierte Republik immer noch hoffte, den Aufstand der muslimischen Bevölkerung Algeriens durch Einberufung einer halben Million Wehrpflichtiger niederzukämpfen. In der Person Gamal Abdel Nassers glaubte Paris den »GroÃen Bruder« und Waffenlieferanten der maghrebinischen Rebellen zu erkennen.
Im Sommer 1956 war Khartum â mit Ausnahme der kolonialen Verwaltungsgebäude am Ufer des Blauen Nils â eine ziemlich trostlose Ansammlung von Lehmgassen. Die Stadt brütete in unÂerträglicher Hitze. Beim Besuch der französischen Botschaft stieÃ
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