Arabiens Stunde der Wahrheit
Der Preis für Nahrungsmittel, zumal für das tägliche Brot, stieg. Der Tahrir-Platz, der auf Drängen der Armee vorübergehend geräumt worden war, füllte sich wieder mit Unruhestiftern, unter denen in Ermangelung organisierter Oppositionsparteien die unterschiedlichsten Strömungen ihren Ãberdruà mit der Verzögerung der von ihnen ausgelösten Revolution äuÃerten. Feldmarschall Tantawi berief als Chef des Hohen Militärrates den ehemaligen Transportminister Esham Sharef zum Ministerpräsidenten, einen farblosen Politiker, der nur den wenigsten bekannt war.
Das Militärregime suchte die ungeduldige »zweite Welle« des Aufruhrs durch die Festnahme besonders belasteter Wirtschafts-Haie und Polizeischergen zu besänftigen. Vor allem versprach Tantawi dem inzwischen verstörten Mittelstand die Wiederherstellung deröffentlichen Ordnung. Auf dem Tahrir-Platz klangen diese Versprechen wenig glaubwürdig. Im übrigen diskutierte man dort mit zunehmender Vehemenz über die Neugestaltung des Staates, über den frühestmöglichen Termin ehrlicher und kontrollierter Wahlen sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dabei wurde heftig darüber gestritten, ob die Verabschiedung des neuen Grundgesetzes, des neuen »Destur«, Vorrang vor den Parlamentswahlen haben sollte.
Es kam zu Debatten, bei denen die Redner oft nur ihre eigene Meinung vertraten und darüber berieten, ob Ãgypten in Zukunft eine Präsidialdemokratie nach amerikanischem Muster oder eine parlamentarische Demokratie nach deutschem Modell werden solle. Inzwischen war die bislang von Mubarak manipulierte National-Demokratische Partei aufgelöst und ihre Büros geschlossen worden. Doch was würde an deren Stelle treten? In einer sehr offenen Diskussion junger, hochgebildeter Akademiker, die von »El Jazeera« ausgestrahlt wurde, fand ich die Bestätigung für die profunden Divergenzen der jungen Idealisten, nahm aber auch ihr Eingeständnis wahr, daà ihnen jede präzise Zukunftsvision fehlte und daà sie mit ihren intellektuellen Kontroversen unendlich weit entfernt waren von den Bedürfnissen und Nöten der Millionenschar bäuerlicher Fellachen in den entfernten Provinzen. Seltsamerweise wurde bei dieser Talkshow das wirklich brisante zentrale Thema ausgeklammert, nämlich wie sich die künftige Republik gegenüber der islamischen Religion und der Scharia verhalten solle. Jedermann wuÃte doch, daà neben dem starken Kader der Armee die Organisation der Muslimbrüder, der Ikhwan, die über Millionen Anhänger verfügen, als politisches Schwergewicht auftreten würde. Bislang hatten sie eine erstaunliche Diskretion bewahrt und sich klarer MeinungsäuÃerungen enthalten. Statt dessen kümmerten sich deren fromme Verantwortliche um die Linderung des Elends, die Speisung der Armen, die Pflege der Kranken und Waisen, den Bau von Schulen sowie die Wahrung islamischer Tugend. Sie übernahmen ganz eindeutig die Aufgaben, die normalerweise der staatlichen Administration zugefallen wären.
Schiitische Kalifen in Kairo
Diearabische Welt, so erscheint es heute, ist an einem Punkt ideologischer oder theologischer Turbulenz angekommen, wie sie in ähnlicher Form um das Jahr 1000 den Dar-ul-Islam heimsuchte. Unmittelbar nach dem Tod des Propheten war der Streit um das Kalifat entbrannt, um die Statthalterschaft Gottes auf Erden in einem SyÂstem, das eine Trennung von Weltlichem und GeistÂlichem ausschloÃ. Neben den vier ersten »rechtgeleiteten« Vorstehern der islamischen Gemeinde, den »Raschidun«, zu denen als letzter auch Ali Ibn Abi Talib gezählt wird, rià die Sippe der Omayyaden den FührungsÂanspruch an sich und eröffnete den unversöhnlichen Disput mit den schiitischen Imamen, den unmittelbaren Nachkommen Alis und der Prophetentochter Fatima, der bis in die Gegenwart oft in tödlicher Feindschaft ausgetragen wird. Während die heute in Persien und Mesopotamien vorherrschende »Schiat Ali« zwölf gottberufene Imame anerkennt, von denen der letzte in der Okkultation weiterlebt, hatte sich der Zweig der Ismaeliten auf sieben Interpreten der koranischen Lehre beschränkt, während die Zaiditen im Norden des Jemen ihre schiitische Mystik auf fünf Imame reduzieren.
In der Epoche zwischen 969 und 1171 haben die Siebener-ÂSchiiten eine historische Bedeutung erlangt und eine
Weitere Kostenlose Bücher