Arabiens Stunde der Wahrheit
gesamten Bevölkerung ausmacht. In Ermangelung akzeptabler Berufschancen und aus Ãberdruà an der unerträgÂlichen Bevormundung durch eine wenig qualifizierte Schicht von Privilegierten wurden sie an den Rand der Verzweiflung getrieben.
»Facebook-Revolution« wurde der Aufstand der entfesselten Demonstranten genannt, so wie im Jahr 2009 bei den Unruhen in Teheran von einer »Twitter-Revolution« gesprochen wurde. Was die Revolte gegen die Mullahkratie Irans am Ende scheitern lieÃ, war der Mangel an einem präzisen Programm gesellschaftlicher Erneuerungund vor allem das Fehlen eines charismatischen Volkstribuns vom Format eines Ayatollah Khomeini. Der farblose, Âumstrittene Wortführer der persischen Massenbewegung, Mir Hussein Mussawi, hatte sich in den frühen Jahren der Islamischen Republik als religiöser Zelot zu erkennen gegeben. Für seine Gefolgschaft war er zu alt und undurchsichtig. Hinzu kam ein sozialer Gegensatz, der den Reformern zum Verhängnis wurde. Die Demonstranten gehörten mehrheitlich der Oberschicht oder doch jenem persischen Mittelstand an, der sich stark vermehrt hatte und den Exzessen des Gottesstaates stets mit Widerwillen begegnet war. Ihnen gegenüber vertraten die Schlägerbanden der Bassiji, Söhne der ärmeren Schichten, die von ihren Motorrädern auf die aufsässigen Studenten einprügelten, jene breite Gesellschaftsschicht, die weiterhin in dürftigen Verhältnissen, wenn auch keineswegs im Elend lebte und neben einer nationalistisch-schiitischen Grundeinstellung durch Klassenneid motiviert wurde. Die Auswirkung der Twitter-Konspiration wurde übrigens dadurch reduziert, daà die Anleitungen zum Widerstand gegen die dubiose Wiederwahl des Präsidenten Ahmadinejad meist auf englisch ausgegeben wurden. Der Verdacht lag nahe, daà ausländische Dienste an dieser konzertierten Aktion beteiligt waren.
Was nun Ãgypten betrifft, so hatte am 6. April 2008 schon einmal die sogenannte Jugend-Bewegung über Facebook zu einer breiten Streikwelle aufgerufen. Diesem Experiment fehlte es jedoch an Organisation und Zielsetzung, so daà es zusammenbrach, noch ehe die getroffenen Absprachen zur konkreten Aktion auf die StraÃe übergriffen. Um so eindrucksvoller war die Mobilisierung von Hunderttausenden, die jetzt aus allen Vierteln der Nil-Metropole auf dem Tahrir-Platz zusammenströmten, ihre Gewaltlosigkeit bekundeten und sich bereit fanden, für ihre liberalen Vorstellungen das eigene Leben zu riskieren. Die blutigen Ãbergriffe der verhaÃten Geheimdienste und der Sonderpolizei schweiÃten die Masse zusammen, der zugute kam, daà die Führung der ägyptischen Armee das Bestreben Mubaraks, seinen unbedarften Sohn Gamal als Nachfolger zu inthronisieren, nicht zu akzeptieren bereit war. Die Streitkräfte verhieltensich deshalb neutral, aber sie waren durchaus nicht gewillt, ihre dominante Stellung im Staat und die exorbitanten Privilegien, die die höheren Chargen genossen, durch junge, zornige Männer, durch weltfremde Schwärmer in Frage stellen zu lassen.
Ãhnlich war es ja auch in Tunis verlaufen, wo die Armee â von dem Diktator Ben Ali wohl aus Selbsterhaltungstrieb jeden Einflusses beraubt â ganz offen mit den Rebellen sympathisierte. Als ich auf dem Bildschirm beobachtete, wie tunesische Offiziere die Leichen getöteter Demonstranten militärisch grüÃten, spürte ich, daà für Ben Ali und dessen raffgierige Trabelsi-Sippe die Stunde geschlagen hatte, wenn auch die würdelose Flucht dieses Tyrannen nach Saudi-Arabien überraschend schnell erfolgte.
Es mag schockieren, aber in mancher Beziehung haben mich die Kundgebungen auf dem Befreiungsplatz von Kairo an den Mai 1968 in Paris erinnert, wo die Steinwürfe der Studenten gegen Gendarmerie und Compagnies Républicaines de Sécurité ebenfalls auf ein engbegrenztes Terrain zwischen Place Saint-Michel und Théâtre de lâOdéon begrenzt blieben. Damals hatten die überwiegend marxistischen Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen und Frankreich wirtschaftlich gelähmt. Als ich jedoch ein mir vertrautes Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei, Pierre Juquin, fragte, warum denn seine Genossen sich von den Prügeleien mit den Ordnungskräften fernhielten und auf den Barrikaden, die rings um den Boulevard Saint-Germain errichtet wurden, nicht zu sehen waren, hatte
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