Arabiens Stunde der Wahrheit
zusätzliche Spaltung bewirkt, die weitreichende Folgen hatte. Aus welchem Grunde im westlichen Teil des Dar-ul-Islam, im nordafrikanischen Maghreb, diese ismaelitische Sekte plötzlich die dortigen Berberstämme um sich scharte, in der heiligen Stadt Kairuan im heutigen Tunesien ein Gegenkalifat gegen die zu dieser Zeit in Bagdad reÂsidierende und weithin anerkannte sunnitische Dynastie der Abbassiden ausrief, bleibt letztlich ein Mysterium religiöser Inbrunst. Unter ihrem Verkünder, dem aus Syrien stammenden Kalifen Mahdi Ubayd Allah, brachen sie zu einem unwiderstehlichen Sturm nach Osten auf, eroberten Ãgypten und schufen dort das neue Zentrum eines Reiches, das sich zeitweise ganz Nordafrika, Sizilien, den arabischen HeÂdschas, den Jemen und Süd-Syrien einverleibte.
DieGründung der Stadt Kairo, auf arabisch »el-Kahira«, geht auf diese Eindringlinge aus dem tunesischen Ifriqiya zurück. Die eindrucksvollsten Bauten der ägyptischen Hauptstadt, die groÃen Moscheen Sultan Hassan und Sultan Hussein, die Weihestätte der Sayyida Zeinab, der Mutter Alis, sowie eine Vielzahl sakraler Monumente sind der schöpferischen Tätigkeit der Fatimiden zu verdanken. Die bedeutendste Leistung erbrachte diese Kalifen-Folge, deren Name sich auf die Prophetentochter Fatima bezog, mit der Gründung der El-Azhar-Universität, die bis heute als weltweit höchste Lehrstätte islamischer Wissenschaft gilt. El-Azhar gibt aber auch Zeugnis von der geringen religiösen Tiefenwirkung, die von diesem schiitischen Glaubenszweig und dessen Kalifen ausging. Die Masse der Untertanen blieb der sunnitischen Glaubensrichtung treu, und das geistliche Oberhaupt, der Scheikh von El-Azhar, betrachtete sich sehr bald als berufenster Interpret der orthodoxen sunnitischen Lehre.
Ansonsten wurde diese glanzvolle Epoche in dem MaÃe geschwächt, wie ihre Imame, die ihr Antlitz stets hinter einem Schleier verbargen, auf die Rekrutierung türkischer oder kaukasischer Söldner angewiesen waren. Einer dieser fremden Heerführer, der Kurde Saladin, der als Wesir am Kairoer Hof bereits über gröÃten Einfluà verfügte, proklamierte sich nach dem Tod des letzten ÂFatimidenkalifen zum Sultan. Er verhalf der Sunna wieder zu ihrem Recht und gründete die Dynastie der Ayyubiden.
Von der »Partei Alis« ist seltsamerweise im Niltal nichts übriggeblieben auÃer ein paar Volksbräuchen, wie die jährliche Feier zur Geburt Alis oder eine Reminiszenz des Aschura-Festes, das hier aber nicht wie in Kerbela oder Nejef mit Trauermärschen und GeiÃelungen begangen wird, sondern mit der Verteilung von SüÃigkeiten an die Kinder. Noch unlängst besaÃen die Schiiten Ãgyptens â als religiöse Randgruppe â nicht einmal ein gesetzliches Statut. Das stimmt nachdenklich im Hinblick auf die groÃen Strömungen, die den Islam von heute aufwühlen. Vom gewaltigen ismaelitischen Aufruhr, der zwischen Maghreb und Maschreq im zehnten und elften Jahrhundert toste, von der Herrschaft der Fatimiden, in deren Namenvorübergehend die Freitagspredigt in Mekka und Medina gehalten wurde, ist am Ende nur die Zerrgestalt jenes geistesgestörten Kalifen Hakim bi Amrillah in die Geschichte eingegangen, der mit seinen blutigen Ausschreitungen gegen Christen und Juden im Niltal sowie im Heiligen Land â er lieà die Auferstehungskirche Christi schänden â dazu beigetragen hat, die Kreuzzugsstimmung des Abendlandes anzufachen.
Eine Zufälligkeit der Geschichte bliebe festzuhalten: Aus Tunesien waren die Heerscharen der Fatimiden aufgebrochen, um im Niltal den strahlenden Mittelpunkt ihres Kalifats zu errichten. Man könnte da eine historische Parallele konstruieren mit der Jasmin-Revolte unserer Tage, die völlig unerwartet im Januar 2011 in Tunis ausbrach und jenseits der Endlosigkeit der libyschen Wüste auf dem Tahrir-Platz von Kairo eine umstürzlerische Brisanz gewann, die heute auf den gesamtarabischen Raum ausstrahlt.
Die »Arabellion«, wie die seltsame Vokabel heiÃt, die von deutschen Journalisten erfunden wurde, würde am Ende einer längeren »Katharsis« den Weg zur Demokratie zurückfinden und eine friedliche Zivilgesellschaft ins Leben rufen, so hört man in geÂwissen Kreisen der westlichen Allianz. Als ob jemals in einem der Staatswesen des Maschreq oder Maghreb eine Regierungsform existiert
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