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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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von Kairo zur Schlacht aufgestellt. Napoleon war zum Kampf bereit und wandte sich – auf die nahen Pyramiden verweisend – an seine bewährten Troupiers: ›Soldaten, von der Höhe dieser Pyramiden blicken vierzig Jahrhunderte auf euch herab. – 1500 Mameluken und ebenso viele Fellachen haben sich mit seltener Unerschrockenheit verteidigt, aber sie fanden den Tod unter dem Ansturm dieser französischen Armee von Helden.‹« Tatsächlich verloren die Ägypter etwa 1600 Mann, die Franzosen nur 29.
    In der deutschen Geschichtsschreibung erscheint die Kampagne Bonapartes im Orient als ein sinnloses und gescheitertes Abenteuer. Aber Johann Gottfried Herder hatte diesen Korsen, der die Errungenschaften der Französischen Revolution dadurch verewigte, daß er sie in imperiales Erz goß, zu Recht als »Weltgeist zu Pferde« erkannt. Von der Expedition ins Niltal und in die Levante ging eine Wirkung des Aufrüttelns, der Modernisierung, der Entdeckung ­einesägyptischen Staatsbewußtseins aus, von dem die Reformer des Tahrir-Platzes, deren Protestrufe heute als Zeitenwende gepriesen werden, weit entfernt sind.
    Napoleon war fasziniert von der Pracht des Orients, auch wenn sich das Osmanische Reich, dem Ägypten weiterhin locker angehörte, auf seinen Niedergang zubewegte. Er soll damals allen Ern­stes an seinen Übertritt zum Islam gedacht haben, nahm jedenfalls mit gebührender Andacht an den Dhikr-Übungen diverser Sufi-Orden teil. Die Mameluken waren so geschwächt, daß die Hohe Pforte als Gouverneur beziehungsweise als Vizekönig den albanischen Vasallen Mohammed Ali mit einer Truppe ihm ergebener Skipetaren nach Kairo entsandte, um die osmanische Autorität zu festigen. Schon zehn Jahre nach Napoleons Rückkehr nach Europa setzte Mohammed Ali der Mameluken-Willkür ein grausiges Ende. Er hatte fünfhundert ihrer Beys zu einem Festmahl in die Zitadelle von Kairo geladen und dort abschlachten lassen. Weitere tausend Mameluken-Fürsten wurden in den folgenden Tagen Opfer einer orientalischen Bartholomäusnacht.
    Die überlegene Kriegführung Napoleons, die in Frankreich weit fortgeschrittene Industrialisierung, sogar gewisse Vorstellungen der abendländischen Aufklärung hatten die intellektuelle Oberschicht des Niltals, die sich überwiegend aus einem Gemisch von türkischen Effendis, griechischen Kaufleuten, emanzipierten ­Ju­den, reichen Kopten, Arabern und Albanern zusammensetzte, tief beeindruckt und den Anstoß gegeben zur arabischen Er­weckungs­bewegung, zur »Nahda«. Unter Mohammed Ali und seiner Dy­nastie, deren letzter Monarch erst im Jahr 1952 gestürzt wurde, entstand ein Nationalgefühl, das sich von der Autorität des osmanischen Sultans schrittweise emanzipierte. Unter seinem Sohn Mohammed Said wurde Ferdinand de Lesseps die Konzession zum Bau des Suezkanals erteilt. Die diskriminierende Kopfsteuer für Nichtmuslime, die »Jiziyat«, wurde aufgehoben und der Wehrdienst, bisher das Privileg der Korangläubigen, auf die Angehö­rigen aller Religionen ausgeweitet. Den einfachen Bauern, den Fellachen, wurde die Offizierslaufbahn geöffnet. In der Armee, die sichauf europäische Modelle ausrichtete, reifte das patriotische Selbstbewußtsein. Bei den Offizieren entstand auch sehr bald das Gefühl, daß die segensreiche Okzidentalisierung ihrer Heimat in eine koloniale Abhängigkeit abzugleiten drohte.
    Es waren eine Serie von industriellen Fehlentscheidungen, übertriebene Rüstungsausgaben und eine Folge unsinniger Luxus­projekte, die – unabhängig von einer beachtlichen Fortschrittlichkeit – das Land am Nil zum faktischen Staatsbankrott und in die Abhängigkeit von Großbritannien führten. Britische Truppen bezogen ihre Garnisonen im Niltal. Der Khedive blieb zwar formell ein Vasall des Sultans und Kalifen von Istanbul, mußte sich aber nach Niederschlagung eines politischen Aufstandes gegen die englische Truppenpräsenz den Weisungen des Generalkonsuls Lord Cromer beugen. In der Geheimgesellschaft »the Revival of the Nation« sammelten sich die Kräfte einer dauerhaften antibritischen Konspiration, wobei der damalige Begriff »Nation« in keiner Weise mit der panarabischen Zielsetzung gleichgesetzt werden kann, der Gamal Abdel Nasser später huldigen sollte. Es handelte sich um die Berufung auf eine strikt

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