Arabiens Stunde der Wahrheit
vernichtenden Gegenschlag aus. Sadats Truppe hatte den Suezkanal überwunden, doch allzu tief trauten sie sich in die Sinai-Wüste nicht vor. Der syrische Staatschef Hafez el-Assad stieà zwar mit seinen Panzerkolonnen über die Golanhöhen hinweg nach Galiläa hinein, aber dann erlitt auch er verheerende Verluste. Dem robusten Truppenführer Ariel Scharon war es in einem Gewaltakt und gegen den Willen seiner Vorgesetzten gelungen, durch ein kühnes Manöver am »Déversoir« die Dritte Ãgyptische Armee einzukreisen. Es bedurfte härtesten amerikanischen Drucks, um die Vernichtung dieser Kerntruppe des ägyptischen Heeres zu verhindern.
Immerhin war es den Ãgyptern durch die Rückeroberung eines schmalen Streifens östlich des Suezkanals vergönnt, die Rolle der ewig Besiegten abzuschütteln, während die Strategen Israels zum erstenMal die Erfahrung machten, daà ihre Hybris sie ein paar Tage lang an den Rand des Abgrundes gedrängt hatte. Während des Yom-Kippur-Krieges hatte ich mit allen Mitteln versucht, die Stadt Kairo und das nahe gelegene Schlachtfeld zu erreichen. Nur auf dem Umweg über Bengasi und am Ende einer trostlosen Taxifahrt durch die Wüste â an Tobruk, Sollum und El Alamein vorbei â gelang es mir, nach Kairo zu kommen. Die ägyptischen Flugplätze waren gesperrt. Im »Hilton-Nile« fand ich Kohorten von JournaliÂsten vor, und wir alle litten unter den gleichen Frustrationen. Die Ãgypter lieÃen uns nicht an die Front. Meine wenigen Kommentare zur Lage rezitierte ich auf dem Balkon des Informationsministeriums. Eine freundliche Beamtin, die des Deutschen mächtig war, stand hinter der Kamera und hörte sich als Zensorin meinen Text genau an. Dann nahm sie mit gewichtiger Miene die Filmrolle mitsamt Tonband und Verschickungssack in Empfang und versicherte uns, daà das Material mit einer nächtlichen Sondermaschine nach Europa verfrachtet würde. In Wirklichkeit landete alles in einer Schublade nebenan. So begnügten wir uns damit, die dickbäuchigen sowjetischen Antonow-Maschinen zu zählen, die ununterbrochen Kriegsmaterial ins Niltal schafften.
Zwei Jahre später bin ich im Gefolge des französischen Präsidenten Giscard dâEstaing wieder nach Ãgypten gereist. Es war bemerkenswert, mit welcher Sicherheit und Leutseligkeit der neue Rais Sadat sich neben der betonten Hoheitlichkeit des französischen Staatschefs behauptete. Ich löste mich bald aus dem offiziellen Konvoi und fuhr unter Militäreskorte auf einer Pontonbrücke über den Suezkanal. Dort hatte Anwar es-Sadat seine Offiziere zu einer Gedenkfeier auf dem nunmehr wieder ägyptisch verwalteten OstÂufer versammelt. Die Dämmerung lag noch grau über der Wüste, als der Ruf des Muezzin ertönte und der Rais sich in der Uniform eines Feldmarschalls in den Ruinen von El Qantara zum FrühgeÂbet nach Mekka verneigte. Inmitten seiner Offiziere war Sadat leutselig und gut gelaunt. Hier fühlte er sich in seinem Element. Muslim und Soldat zu sein war für ihn wohl der wahre LebensÂinhalt. Als Präsident blieb er Dilettant, zog sich gern in sein Landhauszurück und erschien zu später Stunde in seinem Büro, wogegen Gamal Abdel Nasser sich zu Tode geschuftet hatte. Die Abkehr Sadats vom rigorosen Staatssozialismus, die sogenannte Infitah-Politik, entsprach dem lässigen Temperament dieses Bonvivant, der die Russen aus irgendeinem Grunde verabscheute, die sowjetischen Ratgeber zu Tausenden nach Hause schickte und nunmehr voll auf Amerika setzte. Die ökonomische Liberalisierung ging mit gesteigerter Korruption, Vertiefung der ohnehin sozialen Gegensätze und dem Hochkommen einer Schicht von skrupellosen, inkompetenten Geschäftemachern parallel. Der »Held von Suez« geriet allmählich ins Zwielicht.
Die Masse seiner Landsleute brachte Anwar es-Sadat endgültig gegen sich auf, als er sich am 19. November 1977 zu einer Reise nach Jerusalem aufraffte und vor der dortigen Knesset eine Rede hielt. Es folgte kurz danach â unter Ermutigung des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter â das Abkommen von Camp David, das praktisch den Kriegszustand zwischen Ãgypten und Israel beendete.
Dieser Rais entschloà sich nach Abschluà der Camp-David-ÂVereinbarung nicht zu einer umfassenden Repression der militanten Islamisten, wie das sein Vorgänger Gamal
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