Arabiens Stunde der Wahrheit
Oberkommandos anzustellen. Aber eine Frage stellt sich den Anführern schon heute in aller Dringlichkeit: »Wie haltet ihr es mit der Religion?«
Der »Arabische Frühling«, der sich so schnell in einen »Arabischen Herbst« zu verwandeln droht, hat die Meinung aufkommen lassen, die militante Form des aggressiven Islamismus, wie sie von Sayyid Qutb vertreten wurde, gehöre nunmehr der Vergangenheit an. Unter Recep Tayyip ErdogËan haben die Türken einen Weg gewiesen, der die koranische Lehre mit den Vorstellungen westlicher Demokratie versöhnen könnte, nachdem der kemalistische Laizismus durch die vorsichtige und bislang moderate Islamisierung der AKP-Partei verdrängt wurde. Es war mir im Dezember 1998 gegeben, den Führer der AKP in Istanbul zu treffen, kurz bevor er aus einem nichtigen Vorwand eine Gefängnisstrafe antrat. Der extrem energisch wirkende Politiker unterbrach unser Gespräch, um sein Gebet in Richtung Mekka zu verrichten. Er lieà keinen Zweifel aufkommen, daà der Islam für alle Zeit Bestandteil der türkischen Identität bleiben werde. Da seine Töchter, die auf das Tragen des Kopftuchs nicht verzichten wollten, zu jener Zeit in keiner türkischen Hochschule Aufnahme gefunden hätten, schickte er sie zum Studiumin die USA, wo â bei aller Islamophobie â niemand auf die Idee gekommen wäre, einer orientalischen Studentin diese Form der Verhüllung zu untersagen.
Wie würde sich der ethnische Konflikt zwischen Türken und Kurden je überwinden lassen, so hatten wir damals diskutiert, wenn nicht in der brüderlichen Gemeinsamkeit der koranischen Lehre? In Ankara hatten die hohen Militärs seit Atatürk mindestens soviel Macht ausgeübt wie heute in Kairo. Niemand hätte geglaubt, daà es einem ehemaligen Schüler der religiösen »Imam Hatip«-Schulen gelingen würde, die Streitkräfte in ihre Kasernen zu verweisen. Unter ErdogËan werden Erinnerungen an den Glanz und die Macht des Osmanischen Reiches wach. Dieser einzige wirtschaftlich und gesellschaftlich stabilisierte Staat zwischen Algerien und Zentralasien übt einen ständig wachsenden Einfluà aus, weckt bei manchem sogar die Sehnsucht nach einem neuen Kalifat.
War die Absenz, zumindest das Schweigen der Muslimbrüder auf dem Tahrir-Platz ein Hinweis darauf, daà im Zuge der »Arabellion« die islamische Revolution ihren Schwung verloren hatte, daà die Militärs von Kairo â im Gegensatz zu ihren türkischen Kollegen â gar nicht daran dachten, den geläuterten Ikhwan und ihrem mediokren Generalführer Mohammed Mahdi das Feld zu räumen? Immerhin hatte für die religiösen Extremisten und Terroristen die Stunde der Wahrheit geschlagen, als nach zehnjähriger vergeblicher Suchaktion der Fetisch Osama Bin Laden durch ein Kommando amerikanischer Seals in seinem pakistanischen Versteck zur Strecke gebracht wurde. Es ging kein Schrei der Entrüstung, auch keine Welle der Trauer durch die islamische Umma, als dieser weit überschätzte Inspirator des Anschlags von »Nine Eleven« den Tod des »Schahid« fand. Wenn viele Pakistani über die Hinrichtung Osama Bin Ladens in Rage gerieten, dann war das im wesentlichen auf die Verletzung ihrer nationalen Souveränität durch die US-Aktion zurückzuführen.
Kurz vor der Exekution dieses revolutionären Dilettanten hatte ich bei Kontakten mit Taleban-Vertretern in Kabul die spöttische Verdächtigung vernommen, daà dieser seit zehn Jahren unauffindbare»Mujahid« gemeinsame Sache mit der CIA gemacht habe. »Osama ist der Bruder von Obama, und beide treffen sich bei George W. Bush«, so hatten die bitteren Scherze bei der Gefolgschaft des Mullah Omar oder des »Ingenieurs« Hekmatyar gelautet. Für den angeblichen El-Qaida-Kommandeur war es im Grunde ein Segen Allahs, daà er durch amerikanische Kugeln getötet und somit vom Verdacht der Verrats, der in Teheran kräftig geschürt wurde, reingewaschen wurde.
»Der Islam ist die Lösung«
Wenn in Tunesien und Ãgypten bei den angekündigten Wahlen alles mit rechten Dingen zugeht, so ist â den Beteuerungen einer neu geschaffenen Zivilgesellschaft zum Trotz â damit zu rechnen, daà die jeweiligen groÃen Islamströmungen, die »Nahda« in Ifriqiya, die Muslimbrüder im Niltal, wenn nicht die absolute Mehrheit im
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