ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
wider Erwarten neben sich den Stab auftauchen. Sie fragte sich, ob er sich mit ihr mitverwandelt hatte, wie das Schwert und ihre Kleider, oder ob er ihr von alleine folgte. Wolf hatte immer nur einfach seine Hand ausgestreckt, und schon war das Ding da. Bisher hatte sie angenommen, dass Wolf dabei die treibende Kraft gewesen war. Die Vorstellung, dass der Stab eine Art Eigenleben besaß, war ihr nicht geheuer und vielleicht schuld daran, dass sie ihn mit spitzen Fingern anfasste, bevor sie sich in Bewegung setzte.
In den Sälen waren immer noch Uriah postiert. Wie zuvor ließen sie Aralorn anstandslos passieren, auch wenn sie ihr Vordringen wachsam mit Blicken verfolgten. Mit stetem raschen Schritt marschierte sie den Gang voran und hoffte, möglichst bald auf eine Spur zu stoßen, die sie dorthin führen würde, wo sie Wolf eine Hilfe sein konnte. Hier in der Burg des ae’Magi war es schwieriger, den Zauber an Wolfs Stiefeln zu verfolgen, als es in den Höhlen gewesen war. Sie konnte ihn spüren, aber er war mehr ein leises Flüstern statt eines Rufs.
In der Burg herrschte eine gespenstische Stille, sodass sie, als sie aus einem Zimmer Geräusche kommen hörte, unwillkürlich stehenblieb und die Tür öffnete. Erschrocken schaute Kisrah aus seinem Bett auf, wo er soeben in Gesellschaft einer kichernden jungen Schönheit sein Frühstück zu sich nahm.
»Lord Kisrah, Ihr habt nicht zufällig Lust, mir den Weg ins Verlies zu zeigen?«, fragte Aralorn, während sie überlegte, ob sie besser ihr Schwert oder ihr Messer zücken sollte. Doch dazu kam sie nicht mehr. Im gleichen Moment schoss etwas aus Lord Kisrahs Händen auf sie zu. Instinktiv, da sie ihn bereits in der Hand hielt, riss sie den Stab hoch, um es abzuwehren. Als der Blitz auf das dunkle, geölte Holz traf, flammten die Kristalle, die bis zu diesem Zeitpunkt stumpf und leblos gewesen waren, hell auf, und Lord Kisrahs Magie verpuffte ohne einen Laut.
Wenig geneigt, ihn einen weiteren Zauber hinterherjagen zu lassen, griff Aralorn mit dem Stab an. Lord Kisrah, unbewaffnet – um nicht zu sagen unbekleidet, wie er war – hatte gegen Aralorn, die ihre bevorzugte Waffe führte, keine große Chance. Ihr erster Schlag brach ihm den Arm, und der zweite beförderte ihn bewusstlos auf den Boden neben dem Bett.
Aralorn wandte sich mit einer spöttischen Entschuldigung auf den Lippen seiner Bettgefährtin zu, doch irgendetwas an dem Mädchen veranlasste sie, anstelle dessen den Stab fester zu packen. Den Blick gierig auf den bewusstlosen Mann gerichtet, glitt die rothaarige Frau von dem Lager und riss dabei das Tablett mit dem Frühstück zu Boden.
Sich nur allzu gut an die Harpyie erinnernd, der sie und Wolf in der Nacht begegnet waren, stieß Aralorn dem Mädchen das Klauenende des Stabs in die Schulter. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie scharf die Klauen waren, bis zu dem Moment, in dem sie das Blut sah. Fast tat es ihr schon ein bisschen leid, doch dann drehte das Biest sich um und fletschte die Zähne.
Aralorn sprang zurück und zog ernsthaft in Erwägung, Lord Kisrah seinem Schicksal zu überlassen. Während seine Bettgefährtin auf sie zukam, veränderte sie sich rapide in etwas entfernt Reptilienartiges, mit langem, stacheligem Schwanz und beeindruckenden Fängen. Sie sah damit kein bisschen so aus wie das verwandelte Seidenhändlermädchen, aber vielleicht befanden sie sich auch nur in unterschiedlichen Stadien.
Was immer das Ding auch war, es war schnell und kräftig. Als sein Schwanz an den Bettpfosten schlug, splitterte das Holz. Außerdem war es, dankenswerterweise, dumm – sehr dumm. Mit einem schrillen Schrei sprang es Aralorn an und spießte sich damit an den Klauen von Wolfs Stab auf.
Sterbend verwandelte es sich wieder in seine menschliche Gestalt zurück, und die schöne Frau blinzelte mit ihren grünen Augen – Gestaltwandleraugen – und hauchte leise: »Bitte …« Im nächsten Moment war sie tot.
»Pest und Verdammnis«, stieß Aralorn hervor, während sie den Stab wieder in ihre zitternden Hände nahm. Sie kehrte auf den Korridor zurück und war bereits schon ein Stück weitergegangen, als sie den hungrigen Blick eines der Uriah bemerkte, der auf das blutige Ende des Stabs gerichtet war. Sie dachte an Lord Kisrah, der wie eine willkommene Vorspeise neben der Leiche seiner Gespielin lag. Aralorn ging zurück, schloss die Tür zu dem Schlafzimmer und versiegelte sie mit einem einfachen Zauber, den zu brechen Lord Kisrah, wenn er
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