Arbeit - Leben - Glueck
konnten sie auch ganz gut, denn durch Schule und Elternhaus – ebenfalls autoritär – waren sie daran gewöhnt.
Auch heute muss man in der Arbeitswelt Regeln beachten, aber man ist kaum darauf vorbereitet. In den meisten Schulen ist es egal, ob man im bauchfreien Top oder im zerknitterten Sweatshirt ankommt, wie schief man in der Schulbank sitzt oder ob man mal eine Stunde blaumacht. Kaum in der Arbeitswelt angekommen, soll man sich auf einmal gerade hinsetzen, nur noch angemessene Kleidung tragen und jeden Tag pünktlich zur Arbeit kommen? Das fällt vielen erst mal schwer.
|45| Die Auszubildenden haben aus ihrer Sicht ganz andere Probleme: Einige fühlen sich überfordert und ausgebeutet, wie am Beispiel der Werbeagentur deutlich wurde. Doch solche Verhältnisse dürften eher die Ausnahme sein und sind ein spezielles Merkmal gerade dieser Branche. Viel häufiger beschweren sich die Azubis darüber, dass sie immer nur Karteikarten sortieren, Fotokopien machen, die Halle auskehren oder Frühstücksbrötchen holen müssen. Sie fühlen sich nicht richtig gefordert und langweilen sich. Niemand kümmert sich um sie und bringt ihnen etwas Spannendes bei. Jetzt könnte man zwar argumentieren, dass es nicht die Aufgabe eines Unternehmens ist, die Azubis bei Laune zu halten, und dass es Arbeiten gibt, die gemacht werden müssen, auch wenn sie noch so öde sind. Trotzdem haben Azubis einen Anspruch darauf, etwas zu lernen und nicht nur Handlangerdienste auszuführen. Genaueres regelt das Berufsbildungsgesetz. Da steht drin, was und in welchem zeitlichen Ablauf während einer Berufsausbildung gelernt werden muss. Das gilt für alle anerkannten Berufe und das sind ziemlich viele. Der Werbetexter gehört übrigens (noch) nicht dazu.
Eine verbindliche Ausbildungsordnung gewährleistet einen hohen Qualitätsstandard. Das »duale System«, also die Kombination aus Berufsschule und betrieblicher Ausbildung, wie es bei uns praktiziert wird, gilt weltweit als vorbildlich. Unsere Fachangestellten und Facharbeiter machen den Standort Deutschland auch dann noch attraktiv, wenn hier die Löhne höher sind als anderswo. Es ist also im Sinn aller Beteiligten, dass Azubis möglichst viel lernen. Insofern sind Lehrjahre zwar immer noch keine Herrenjahre, aber der Subtext ist ein anderer geworden: Es wird nicht mehr augenzwinkernd toleriert, dass der Azubi nur das zu tun bekommt, was kein anderer machen will.
Jede Ausbildung bietet deshalb die Chance, eine Vielzahl praktischer Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Der |46| Azubi hat vor allem diesen Anspruch an das Unternehmen, bei dem er lernt. Eines kann ihm allerdings niemand abnehmen: Er muss sich einbringen und bereit sein, mitzumachen. Niemand in der Firma ist dafür verantwortlich, dass er die Regeln beachtet, motiviert und rücksichtsvoll ist und sich angemessen kleidet. Niemand wird ihm irgendwas hinterhertragen. Wenn er will, kann er von seiner Ausbildung profitieren und seine Sache gut machen, wenn er aber nicht will, kann ihm niemand helfen.
Praxis und Struktur
Die meiste Praxis haben die Auszubildenden, darin sind sie allen Gleichaltrigen weit voraus. Doch auch Fachhochschulen und Berufsakademien gelten allgemein als praxisorientiert. Viele Einrichtungen wurden sogar extra gegründet, weil viele Firmen ihren Nachwuchs an Fach- und Führungskräften selbst heranziehen wollen. Eine Aufgabe, die ernst genommen wird, denn an den Berufsakademien zum Beispiel werden die Studenten hervorragend betreut. Die Seminare sind klein, es gibt nette Wohnquartiere und ein Ausbildungsentgelt von rund 800 Euro. Im Gegenzug müssen die Studenten in kurzer Zeit sehr viel lernen. Als regelrechte Paukfächer gelten auch Jura, Medizin, Pharmazie und Betriebswirtschaft. Aus all dem könnte man folgern: Je mehr Praxis, desto mehr Struktur.
Warum sind nicht alle Studiengänge praxisbezogen und strukturiert? Gibt es gegen die Forderung nach mehr Praxis gar etwas einzuwenden? Ja, denn bei einer zu einseitigen Ausrichtung auf das Praktische bleibt einiges auf der Strecke. Was wird aus der Forschung, wenn immer nur das zählt, was |47| sofort einen Nutzen hat und den allgemeinen Erwartungen entspricht? Zweckfreie Forschung ist das Gegenmodell zur praxisorientierten Ausbildung. Und je zweckfreier ein Studium angelegt ist, desto offener ist seine Struktur.
Wissenschaftlern geht es um diese Freiheit und Offenheit, wenn sie sich gegen schnelleres Studieren, bessere Anschlussfähigkeit
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