Arbeit - Leben - Glueck
Geschichte. Da auch Naturwissenschaft und Technik die Welt gestalten, werden sie ebenfalls untersucht: Wandel und Geschichte der Technik, ihr Einfluss auf Umwelt und Gesellschaft – all das sind geisteswissenschaftliche Themen. Verstehende Wissenschaft fragt danach, was geschieht, warum es geschieht und wie es weitergehen könnte. Dieser Prozess ist erstens nie zu Ende, weil das Denken und Handeln der Menschen immer weitergeht und oft nur im zeitlichen Ablauf erklärbar wird. Zweitens ist er von der Person des einzelnen Wissenschaftlers abhängig. Deshalb ist die Geisteswissenschaft immer subjektiv und der Prozess des Verstehens auch.
|40| Im Gegensatz dazu stehen die Naturwissenschaftler. Sie rechnen und tüfteln, sie erforschen die Naturgesetze, also alles, was wir auf der Erde, in der Luft, im Universum an Gegebenheiten vorfinden. Dabei versuchen sie, so präzise und objektiv wie nur möglich zu sein. Ein Flugzeug muss fliegen, eine Brücke muss halten, ein Arzneimittel muss helfen, alles andere ist zweitrangig. Für den Naturwissenschaftler ist es am besten, wenn alle Zweifel ausgeräumt werden und kein Raum für Interpretationen bleibt. Ein Experiment gilt dann als gelungen, wenn es wiederholbar, messbar und frei von subjektiven Faktoren ist. Aufgrund dieser Herangehensweise nennt man die Naturwissenschaften auch die exakten oder die empirischen Wissenschaften.
Die Naturwissenschaft will Fakten, die Geisteswissenschaft lebt davon, dass man nichts mit abschließender Sicherheit sagen kann. Wenn ein Naturwissenschaftler sagt: »Das ist ein Ei«, dann ist es auch ein Ei und sonst nichts. Es besteht aus Kalk, Proteinen, Fett, Mineralstoffen und Kohlenhydraten. Das sind die Fakten. Sind alle Fakten bekannt, ist das Wissen über das Ei perfekt – so denkt der Naturwissenschaftler.
Der Geisteswissenschaftler denkt anders. Auch ohne alle Fakten zu kennen, glaubt er nicht, dass ein Ei nur aus Fakten besteht. Für ihn ist ein Ei mehr als nur ein Ei. Und je mehr er darüber weiß, desto komplexer wird die Sache für ihn. Er kennt das Ei als Sinnbild der Fruchtbarkeit und des Weltganzen. Er weiß, was es mit den Ostereiern auf sich hat. Er hat die Eier-Villa von Salvador Dalí vor Augen. Er denkt an das Ei im obszönen Werk von Georges Bataille. Er ist besorgt um das Wohl der Legehennen, die unsere Frühstückseier produzieren. Was ein gutes und was ein schlechtes Ei ist, weiß er aber trotzdem nicht. Europäer etwa bevorzugen das frische Ei. Sie treiben erheblichen Aufwand, damit es aus dem Nest der Henne schnell in die Kühlregale kommt. In Asien dagegen muss das Ei möglichst alt sein. Es wird bevorzugt an Lebensmittelbuden verkauft, neben denen |41| sich die Eierkartons stapeln und wochenlang in der Sonne stehen. Die Chinesen reiben das Ei mit Asche und Salz ein und vergraben es drei Monate. Danach essen sie es mit Sojasoße und Ingwer. Geisteswissenschaftler interessieren sich für all das und können ewig so weitermachen. Der Prozess des Sammelns, Vergleichens und Verstehens ist nie zu Ende.
Ein Grenzfall sind die Sozialwissenschaften und die Psychologie. Ihre Themen sind Mensch und Gesellschaft, weshalb sie klar zu den Geisteswissenschaften gehören. Im Lauf der Zeit haben sich jedoch beide Fächer in Richtung Naturwissenschaft entwickelt. Es wird fast nur noch gerechnet und gezählt, aber die Bedeutung und der Sinn des Ganzen (im Lauf der Zeit) gerät immer mehr aus dem Blickfeld. Psychologen und Sozialwissenschaftler wollen vor allem deshalb empirisch arbeiten, weil das Prestige der Naturwissenschaften höher ist als das der Geisteswissenschaften. Warum ist das so?
Forschung und Technik sind für unsere Zivilisation sehr wichtig. Wir bauen Straßen, Hochhäuser und Kernkraftwerke. Wir heilen Krankheiten. Wir fliegen zum Mond. All das hält uns in Gang, schafft Arbeitsplätze, bringt uns weiter. Deshalb gelten die Naturwissenschaften als nützlich und die Geisteswissenschaften als überflüssiger Luxus.
Andererseits ist das Technische auf vielen Gebieten bereits ausgereift, und es scheint absurd, es noch weiter zu perfektionieren. In der Medizin wird das Zuviel an Technik schon jetzt beklagt und der Sinn all dieser Möglichkeiten zunehmend vermisst. Ob Massentierhaltung, immer schnellere Autos oder Kühlschränke, mit denen man auch Kaffee kochen kann: Sinnfragen werden mehr denn je gestellt. Und so lange Naturwissenschaft sich auf das Machbare beschränkt, sei es auch noch so absurd, ist für
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