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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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jetzt auch außerhalb der Klapse auf einer religiösen “Ich fühle aber so”-Argumentationslinie), daß der winzige Bruchteil der Sekunde, in dem ich zwischen Vergangenheit und Zukunft zu Bewußtsein komme, im Vergleich zur Unendlichkeit dieses Universums auf ein Nichts zusammenschrumpft, auf mathematisch Null. Ein Wimpernschlag, und der Wimpernschlag ist vergangen. Ein Wimpernschlag, und 12,5 Millarden Jahre sind vergangen. Was sich ändert, existiert nicht. In meinen Momenten der Hypomanie sehe ich noch immer im Zeitraffer die Sonne sich aufblähen und unser Weltall plastisch auseinanderfliegen. Ich bitte trotzdem, mich nicht wieder einzuweisen.

    Am Ende, wenn die Welt vergeht
    Und kein Gedicht weiß, wer wir waren,
    Wenn kein Atom mehr von uns steht
    Seit zwölf Milliarden Jahren,

    Wenn schweigend still das All zerstiebt
    Und mit ihm auch die letzten Fragen,
    Wird es die Welt, die’s nicht mehr gibt,
    Niemals gegeben haben.

    21.8. 2010 23:56

    Zum Ende des vierten Zyklus der Chemo nehme ich mir anderthalb freie Tage. Schwierig.

    Wieder einen Ordner Prosatexte weggeschmissen, schlechtes Zeug, gestern schon einen Packen aufwendiger Zeichnungen, an denen ich in meinem Studium viele Monate gearbeitet hatte, meine ersten Comics. Alles schlecht.

    Abends mit Klaus lange über den Tod Gernhardts gesprochen, seine Arbeitseinstellung zuletzt. Mir nicht klar, wie man aus dieser Nachruhm-Sache irgendeinen Trost ziehen kann. Ich arbeite nur, um zu arbeiten.

    22.8. 2010 23:41

    Liege die ganze Nacht neben C. unterm offenem Fenster, stundenlang schüttet der Regen, herrliche Nacht. Hatte tagsüber das zweite Tavor seit der Psychiatrie genommen, aus panischer Angst, nicht arbeiten zu können.

    Im Traum ein Fuchs mit zwei Köpfen, einer vorne, einer hinten, einer lebendig, einer tot. Versuche, den lebenden zu füttern. Es schneit.

    23.8. 2010 14:14

    Im strömenden Regen stürzt eine Frau aus einem Restaurant unter meinen Regenschirm und fragt, ob ich sie mitnähme. Ich bringe sie bis zur Mensa. Sie ist Ärztin an der Charité, Innere.

    24.8. 2010 22:00

    Der Videothekar im 451 bietet zwei jungen Spaniern, Mann und Frau, an, draußen vor die Tür zu gehen. “We don’t have no complaint paper. We can go the shit out on the street, if you want complaint paper. Go back to Spain and there …” usw.

    Gucke Nordsee ist Mordsee, nachdem mich nun auch Jens auf die Ähnlichkeiten zu Tschick aufmerksam gemacht hat. Der Film ist schlecht. Die Stimmung der Bilder trifft es aber genau.

Acht :

    30.8. 2010 9:41

    Der Wüstenroman hat mittlerweile über 300.000 Zeichen, einigermaßen durchgearbeitet. Noch mindestens genauso viel kommt noch, aber das ist zu schaffen. Ich drehe schon wieder am Rad, 16 Stunden Arbeit am Tag.

    31.8. 2010 17:00

    Eine Sturmböe fegt mir die Mütze vom Kopf. Dreißig Meter hinter mir bremst eine Fahrradfahrerin mit dem Vorderrad auf der Mütze und hebt sie für mich auf: Bettina Semmer. Sie fragt, wie’s mir geht, findet, daß ich gut aussehe und legt mir eine Hand auf die Stirn, um Energie zu spenden. Das Angebot weiterer Energiespenden am Wochenende kann ich allerdings nicht annehmen.

    31.8. 2010 21:00

    C. geht es beschissen, mir geht es beschissen. Zusammen ist es okay.

    1.9. 2010 16:57

    Exitstrategie, die dritte: Man macht mich darauf aufmerksam, daß der Wüstenroman mir eine Fatwa einbringen wird. Dabei wird die Religion bisher ausschließlich gelobt: die sittigende Kraft, die Klarheit des Gottesgedankens, Bildung und Scharia. Fraglich natürlich, was der Freundeskreis Dyslexie e.V. da am Ende herausliest. Und die richtige Islamstelle kommt ja erst noch.

    5.9. 2010 10:23

    Im Traum wohne ich in Rom. Mitglieder der Agnostischen Front verhören mich inquisitorisch, ob ich noch Atheist bin. Später gegoogelt: Die gibt’s wirklich.

    Auf den Seiten der BVG hat jemand unter meinem Namen eine Kontaktanzeige aufgegeben. Text ist harmlos, erinnert mich aber an die deutlich weniger harmlose und sehr beunruhigende Geschichte vor sechs oder sieben Jahren, kurz nach Lottmanns Langer Nacht der Popliteratur. Da hatten wir im Kurvenstar gelesen, Gerrit Bartels hatte vernichtend darüber geschrieben, und wenige Tage später, als ich mit Holm und noch wem in einer Kneipe in der Metzer Straße saß, kam ein mir unbekannter Mann an unseren Tisch und fragte: Prügeln wir uns gleich oder später? Gerrit Bartels, wie sich dann rausstellte, der am selben Morgen einen mit meinem Namen unterzeichneten Brief

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