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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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gar nicht am Buch, und es ist die Aufladung durch die frühe Lektüre?

    Der Idiot war das erste, was ich von Dostojewskij las, und ich las es nur des Titels wegen. Hatte mich schon als Kind fasziniert. Verirrt stand das Buch im Regal meiner Großmutter.

    In meiner Familie wurde kaum gelesen, und auf alles, was ich las, kam ich mehr oder weniger zufällig. Über ein Nachwort in irgendeinem Dostojewskij gelangte ich zu Schopenhauer, von Schopenhauer zu Nietzsche, und über Nietzsche, der ihn als gleichwertigen Psychologen zu Dostojewskij führt, zu Stendhal. Ein jahrelanger mühsamer Irrlauf nach Bildung, ein wildes Rumlesen in Zeiten stärksten Liebeskummers. Die Sackgassen waren zahlreich, und daß Sozialleben auch weitergeholfen hätte, war mir damals nicht bewußt. Besonders schlimm nach dem Abitur. Im Zivildienst hatte ich den Eindruck, endgültig zu verblöden, und zwang mich in jeder freien Minute zum Lesen.

    Das war etwa zu der Zeit, als ich auch aufhörte, fernzusehen, und Gespräche über Alltägliches ablehnte. Ich empfand das alles als Zumutung und beschäftigte mich (neben meinem Liebeskummer) nur noch mit Malerei und großer Lektüre. Wobei das mit der Lektüre eine große Mühsal war.

    Große Lektüre von großem Mist zu scheiden, ist ein zeitraubendes Unterfangen, wenn man aus kulturfernen Schichten kommt und niemanden kennt, der sich sonst noch dafür interessiert. Bis weit ins Malerei-Studium hinein hangelte ich mich an Pongs’ Lexikon der Weltliteratur durch den Dschungel. Proust gilt dort als ein “Beispiel für die blendende Unmenschlichkeit des ‘L’art pour l’art’”, und seiner Recherche wird soviel Platz eingeräumt wie Gustav Freytags Die Ahnen. Solschenizyn hat bei Pongs fünf Seiten, Böll eine Seite, Salinger eine Neuntelseite, und Nabokov war im Gegensatz zu den Weltliteraten Günter Kunert oder Reiner Kunze 1984 gänzlich unbekannt. Also las ich erstmal Kunert und Kunze. Das meiste, was ich entdeckte, entdeckte ich aus Versehen. Natürlich gab es auch in meiner entfernteren Umgebung immer mal Leute, die von Proust oder dem Fänger im Roggen schwärmten, aber das war von der Schwärmerei für Hesse oder Castaneda für mich nicht zu unterscheiden und zu zeitraubend zu überprüfen. (Castaneda weiß ich bis heute nicht, was das ist.) Sogar meine Freundin las Svende Merian. Ich hielt es für gut, vorne anzufangen bei deutscher Klassik und Romantik, von Goethe bis Heine und den ganzen Quatsch dazwischen leider auch. Zwanzigstes Jahrhundert ignorierte ich ganz, hielt ich für Unfug, zum einen in Erinnerung an meine Schullektüre, zum anderen, weil ich die Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts ebenfalls für Unfug hielt.

    10.8. 2010 7:56

    Frühmorgens wieder ins Meer, es ist so herrlich. Kann man so was Ähnliches nicht auch in Berlin-Mitte, um aufzuwachen?

    Dann an dem problematischen Kapitel 17 gearbeitet, wie hundert Mal zuvor an dem Sturm-Kapitel von Ernst-Wilhelm Händler orientiert, und es – hoffe ich – endlich hingekriegt. Nach drei oder vier Tagen. Ein zehn Seiten langes Kapitel, das nichts weiter beschreibt, als wie einer an einer Leiter vom Dachboden steigt. Ich bin zu langsam für diesen auktorialen Scheiß.

    Kathrin ist jetzt im Boot, hoffe ich.

    Mein Vater beginnt einen Satz mit: “Ich erinnere mich, vor genau siebzig Jahren …” Er ist 73. Folgt die Geschichte, wie seine Schwester in der Ostsee schwimmen lernte, mit einer Schlinge um den Bauch.

    10.8. 2010 16:05

    Es ist wie immer, die Müdigkeit haut wie mit einem Hammer auf mich ein, irgendwann habe ich ein paar wache Minuten, und dann muß ich losschreiben. Danach bin ich für ein paar Stunden immun, sogar gegen Lärm.

    Die mittlerweile gelöste Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, daß unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe.

    Wir erreichen jetzt den Bahnhof Neubrandenburg.

    Ich frage mich, ob ich auf dem Fahrrad aufgeregter zwischen den Polizeistreifen hindurchfahren würde, wenn ich nun unlautere Absichten hätte. Kann mich in die Skrupel dieses früheren Lebens nicht mehr hineinversetzen. Ich glaube, ich könnte jetzt Banken überfallen, ohne daß mein Puls über 60 ginge.

    11.8. 2010 23:00

    C. liest das Kapitel und gibt den Ratschlag, den sie immer gibt: kürzen, das muß alles schneller in die Handlung münden, und hat wie immer recht. Was ich bräuchte, wären im Grunde Korrekturleser, die direkt hinter mir

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