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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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besser ginge, Kommentar insgesamt länger als der Aufsatz. Aber die Vier in Deutsch machte es mir schwer, ihn ernstzunehmen, und ich entschied mich dafür, ihn für das zu halten, wofür ihn die meisten anderen auch hielten: Einen aus dem Weltkrieg mit leichtem Tremor und permanentem Kopfschmerz zurückgekehrten, etwas irren Liebhaber von Literatur mit ausschließlich letalem Ausgang, einen Mann mit einem Faible für Schach und Marschmusik, der zitternd den Mittelgang auf und ab rannte, unaufmerksame Schüler mit ruckartigen 180-Grad-Drehungen und gebrüllten Fragen aus ihrem Mittagsschlaf weckte, der mit Tafelkreide warf, in der Sexta Kleist durchnahm und von Stil sprach. Der einzige Lehrer in meiner ganzen Schulzeit, der von Stil sprach. Und auch eine Ahnung hatte, wovon er da sprach, wie das Aufsatzheft beweist. Hätte ich auf ihn gehört, ich hätte zehn Jahre meines Lebens gespart.

    Er starb, bevor mein erstes Buch erschien. Hat mich sehr geschmerzt.

    Im Fünftklässler damals nur ein Gemisch aus Furcht, Verachtung und dem nicht faßbaren Gedanken: Wie einer leben kann mit einem permanentem Kopfschmerz, ohne sich umzubringen. In seinem Unterricht herrschte abolute Stille, wie sonst nur noch bei Fleischhauer. Da war es genauso still, auch ohne Kreidewerfen. Falls er zufällig noch lebt und ebenso zufällig hier mitliest: von Hammurabi über Solon bis zur Schlacht bei Leuktra kann ich das alles noch im Schlaf.

    Erste Aufgabe in der ersten Geschichtsstunde meines Lebens: Wenn ein Zentimeter auf einem Bandmaß einem Jahr entspricht, wie lang muß das Bandmaß sein, um die Dauer des Bestehens unseres Sonnensystems anzuzeigen? 45.000 Kilometer, mehr als einmal um die Erde.

    Rechne aus: Die Länge der Strecke, die auf dem Bandmaß rot eingefärbt werden muß, um die Anwesenheit des Menschen auf diesem Planeten zu veranschaulichen? Zehn Kilometer. Die ersten Höhlenmalereien? Vor 300 Metern. Kreuzigung eines Mannes in Palästina? Zwanzig Meter. Dein eigenes Leben? Zehn Zentimeter.

    Hätte mir damals einer gesagt, weitere 35 oder 36 kämen noch, was hätte ich getan? Hätte es mein Leben verändert? Die populäre, akademische, theologische und auch im Science Fiction gern und oft gestellte und immer wieder mit Nein beantwortete Frage, ob die Kenntnis des eigenen Todeszeitpunkts wünschenswert sei: Doch. Würde ich sagen. Doch, ist wünschenswert. Segensreich. Eine Belastung, aber eher ein Segen. Nicht für Kinder natürlich. Aber wenn machbar und mit Erreichen der Volljährigkeit: Besuch im Genlabor, dann ungefähr ausrechnen, dann planen, dann leben. Könnte man sich viel Quatsch ersparen.

    20.11. 2011 16:00

    Mit C., Lars und Passig in Tyrannosaur, reiner Gewaltfilm, durchgeheult. Entweder stimmt mit mir was nicht mehr oder mit dem Kino, ich sehe nur noch gute Filme.

    25.11. 2011 12:21

    Letzte Bestrahlung. Die dreiteilige Maske wird mir in einem Plastiktütchen mitgegeben, damit bei Bedarf weitergestrahlt werden kann.

    Abschlußgespräch mit dem Arzt: Kein Schwindel? Keine Schmerzen, keine Nebenwirkungen? Nichts außer leichter Müdigkeit? Bei drei Antiepileptika, auf deren Beipackzetteln jeweils Müdigkeit an erster Stelle steht, vielleicht kein Wunder.

    Und dann noch mal die Statistik, bitte?

    Ja, wie gesagt, da zeigt das Bild so eine Linie, die langsam nach unten geht und dann immer weiter abwärts -

    Ich meine, in meinem Fall jetzt speziell?

    Nach fünf oder sechs Jahren Erfahrung mit dieser Methode, und dann machen Sie ja jetzt mit dem Temodal weiter, und bei Ihrem Alter und Allgemeinzustand, zehn bis zwölf Monate, würde ich sagen. In etwa.

    Bis zum Tod oder bis zum Rezidiv?

    Bis zum Rezidiv.

    Das ist zuviel. Wenn man gern Gefühle hat, gegen deren Ausagiertwerden man nichts unternehmen kann, ist Hirnkrebs eine tolle Sache. Den Arzt beeindruckt mein Herumgespringe wenig, der hat vermutlich schon anderes gesehen. Ich selbst hatte mir drei bis vier Monate zusammengegoogelt. Da könnte ich ja noch zwei Bücher schreiben, wenn ich wollte. Komischerweise will ich gar nicht mehr. Ich habe fast zwanzig Monate durchgearbeitet, weil ich mußte. Jetzt muß ich nicht mehr. Also schreibe ich nicht mehr. Schon praktisch seit dem vierten November nicht mehr.

    26.11. 2011 18:00

    Carnage, 8 Punkte. Ich mag das, wenn sie im Film so reden. Die Virtuosität, mit der eine friedliche soziale Situation unter vernünftigen, intelligenten Erwachsenen im Dialog über die Klippe geschoben wird, die technische

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