Arche Noah | Roman aus Ägypten
Schockzustand, sie hatte den 25. Mai 2005, als sie von den jungen Männern bedrängt worden war, erneut durchlebt und war paralysiert wie eine Gazelle, die von einer Hyäne angegriffen wird.
Die Angst, die ihrer Tochter ins Gesicht geschrieben stand, bemerkte Nivîn nicht.
M ichael sah sie an und sprach mit den Augen zu ihr: ›Sylvia, ich weiss, ich bin ein Idiot, alle sagen das. Ich pauke wie blöd und komme trotzdem nur mit Hängen und Würgen durch. In der Schule bin ich Klassenletzter. Ich muss nur noch iahen, sagt unser Lehrer Abdalrassûl, und dann werde ich offiziell als Esel zugelassen. Aber heute habe ich es zum ersten Mal selbst erkannt: Ich bin wirklich ein Idiot. Carol hat mich gewarnt, ich soll Mama nichts verraten, hat sie gesagt. Aber ich bin umgekippt und ausgelaufen wie ein Eimer. Ich habe ihr von Taimûr erzählt. Ich hatte eben Angst um dich, als die Polizei hier anrief, ich dachte, sie hätten dich wegen dieser Sache festgenommen. Seit du zurück bist, Sylvia, ist meine Stimme weg. Du willst mich nicht ansehen und auch nicht mit mir reden. Ich möchte dir bloss sagen, dass ich Angst um dich hatte, aber ich kann nicht sprechen.‹
E s war eine einschneidende Nacht im Leben der Familie. Nachdem Nabîl und Nivîn ihren Streit beigelegt und sich wieder beruhigt hatten, fassten sie diverse Beschlüsse. Sylvia würde ihre Abschlussprüfungen in Ägypten absolvieren und danach unverzüglich das Studium in Kanada oder den USA aufnehmen. Bis zum Abflug stünde sie rund um die Uhr unter direkter Aufsicht eines der beiden Elternteile. Sylvia würde jeden Tag – und sei es nur für eine Viertelstunde – in die Kirche gehen, damit ihr Herz sich dem Glauben öffnete. Ausserdem beraumten sie für den darauffolgenden Freitag einen Familienbesuch bei Priester Estephanos an, um die Beichte abzulegen, Vergebung zu erbitten und von ihm ins Gebet eingeschlossen zu werden, auf dass sich Gottes Wille in ihren Taten niederschlage, sie für sich und Sylvia die richtigen Entscheidungen träfen und ihre Tochter auf den rechten Pfad gelenkt würde.
In der Nacht tat die ganze Familie kein Auge zu. Nabîl rief zig Freunde in den USA und in Kanada an, um Informationen über die Universitäten einzuholen. Plötzlich kam ihm sein Freund Talaat Dhihni in den Sinn, der seit über sechs Jahren in den USA lebte und sich durch eine besondere Eigenschaft auszeichnete: Er wusste mit all den Minuten und Stunden, die Gott ihm täglich schenkte, nichts anzufangen. Am liebsten hätte er sie angespart, um sie später, wenn er wieder in Ägypten wäre, zur Verfügung zu haben. Nabîl erinnerte sich, dass er Talaats Frau und Kinder einige Tage zuvor im Klub getroffen und sich seine Telefonnummer in Amerika notiert hatte.
Talaat Dhihni, eine grossartige Idee!
T alaat ist ein wunderbarer Kerl. Ausserdem hat er massig Zeit, denn er geht keiner geregelten Arbeit nach. Viel entscheidender aber ist die Tatsache, dass er die reinste Kontaktmaschine ist, er kennt alle Welt. In den sechs Jahren, in denen er jetzt in Amerika lebt, hat er schon fast alle 300 Millionen Einwohner kennengelernt. Und früher stand er mit allen siebzig Millionen Ägyptern auf Du und Du. Offensichtlich aber war das hier erst die Aufwärmphase gewesen, um sich anschliessend an die Amerikaner heranzumachen. Bleibt nur zu hoffen, dass er nicht noch auf die Idee kommt, sich die Chinesen zu erobern. Talaat ist sagenhaft, was soziale Beziehungen angeht. Meine Schwester in Houston zum Beispiel wäre völlig überfordert, sie schuftet von früh bis spät, und nachts schläft sie, die Arme! Talaat ist da anders. Mich würde nicht wundern, wenn die Präsidentin der Harvard-Universität seine intime Freundin wäre. Er brauchte sie nur anzurufen und zu sagen: »Bitte, lass Sylvia zum Studium zu.« Und Drew Faust würde erwidern: »Dein Wunsch ist mir Befehl, liebster Talaat.« Anschliessend würde er einen milliardenschweren Kopten mit amerikanischem Pass auftreiben, der gut aussieht, sich unsterblich in Sylvia verliebt und sie vom Fleck weg heiratet. Talaat wird’s richten!
Nivîn und ich stellten uns schlafend. Bis heute wachen wir bei völliger Dunkelheit, und das nur dir zuliebe, Sylvia, Schatz.
Talaat Dhihni
W as für eine Überraschung! Ich war mit einer Neuen zugange, einer Chinesin, an deren Namen ich mich schon nicht mehr erinnere. Jedenfalls war sie gerade dabei, ihren BH auszuziehen, um zu Umm Kulthûms Lied Du, mein Ein und Alles zu tanzen, als mein Handy
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