Arche Noah | Roman aus Ägypten
ihn mit dieser Geschichte viele Jahre aufgezogen haben. »A plan B is a must for us«, sagte er dann jedes Mal.
Unsere eigene Dummheit erkannten wir erst zehn Jahre später. Magîd Kyrollas war der Zweite, er beschaffte sich die amerikanische Staatsbürgerschaft. Jûnis Fâdil heiratete eine Marokkanerin mit französischer Nationalität, wurde eingebürgert und erfreut sich nun eines weinroten Reisedokuments. George Michaîl hat auch die Einwanderung nach Neuseeland beantragt und den Pass ebenfalls bekommen. Die Sache mit Talaat Dhihni aber ist ganz anders gelagert. Ich habe keine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten er jetzt wieder steckt. Einer nach dem anderen … Mittlerweile hat jeder aus der Clique eine zweite Staatsbürgerschaft. Ein Fuss hier im Land und einer auf dem Flughafen, und bei der ersten Bombe machen sich alle aus dem Staub, nur ich habe es verpasst und gucke jetzt dumm aus der Wäsche. Keine Ahnung, warum, vielleicht aus Trägheit, aus Enttäuschung oder weil ich gern ein Risiko eingehe. Doch nun sind wir an dem Punkt angelangt, an dem mir nichts anderes übrigbleibt, als den Einwanderungsantrag in die Wege zu leiten. Aber nur als Plan B.
» H allo, Taimûr, wie geht es dir?«
»Bist du wahnsinnig, Sylvia? Mitten in der Nacht, es ist zwei Uhr! Wie willst du morgen in die Schule kommen? Ich habe dir tausendmal gesagt, dass du früh ins Bett gehen sollst.«
»Und warum hast du dann das Handy an?«
»Ich habe auf deinen Anruf gewartet.«
»Ist ja grossartig! Ich konnte nicht schlafen, also habe ich mir gedacht, ich rufe dich an.«
»Ich habe völlig vergessen, dir zu sagen, dass ich morgen nach der Schule ein Squashturnier in al-Maâdi habe. Es fängt um sechs an. Kommst du?«
»Und was soll ich erzählen, was ich in al-Maâdi will? Ausserdem ist morgen Dienstag. Da bringt mich der Chauffeur Michael zum Nachhilfeunterricht in die Sûrijastrasse.«
»Ich liebe dich.«
»Mann, bist du mutig! Du scheinst ja wirklich schon zu schlafen.«
»Und du? Du sagst mir doch hundertmal am Tag, dass du mich liebst!«
»Ja, ich bin ja auch die Verrückte und du der Vernünftige.«
»Selbst die Vernunft in Person darf um zwei Uhr morgens mal überschnappen. Aber verlass dich nicht drauf, dass das zur Regel wird.«
Taimûr war, seit er das Licht der Welt erblickte, ein ruhiger, freundlicher, pflegeleichter Junge. Er schlief zu regelmässigen Zeiten und ausgiebig, so dass die Eltern sich schon fragten, warum andere Leute so oft über ihre Kinder klagten. Vom ersten Schultag an war er Klassenbester gewesen. Diese Position verteidigte er bis zur neunten Klasse, als sein Vater das Flugzeug nach Doha bestieg, um den katarischen Wohlstand zu mehren. Doch er fing sich bald wieder, und nun, auf der Oberstufe am englischen Gymnasium, erzielte er in allen Fächern beste Ergebnisse.
Mit Beginn des letzten Schuljahres hatte Taimûr einen Entschluss gefasst. Nach mehreren Jahren heimlicher Liebewollte er endlich Sylvia seine Gefühle gestehen. Doch sie kam ihm zuvor. Von Anfang an stellte Taimûr aber strenge Regeln auf. Jeden von Sylvias Versuchen, aus dem engen Rahmen von Sitte und Anstand auszubrechen und ihn zu einem spontanen Abenteuer zu bewegen, blockte er ab, so auch den Kuss eines Abends im Klub. Das stehe ihnen noch nicht zu, erklärte er liebevoll. Sie erwiderte, man solle seine Bedürfnisse nicht aufschieben. Taimûr aber liess sich nicht umstimmen, schliesslich war er ein durch und durch disziplinierter junger Mann. Die Grenze zwischen Richtig und Falsch, gezogen anhand der Anweisungen der Eltern und Lehrer, überschritt er nie, ausser in einem Fall: seiner Liebe zu Sylvia.
Jeden Morgen und Abend fragte sich Taimûr, ob er lieben durfte. Wenn sein Herz dies bejahte, meldete sich sofort die nächste Frage: Durfte er eine Christin lieben? Das bereitete ihm Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte, insbesondere weil er sich damit auf keinen Fall an seine Mutter wenden wollte. Er litt schrecklich unter der Abwesenheit des Vaters, jetzt hätte er ihn dringender gebraucht als je zuvor. Immer wieder nahm er sich vor, das Thema bei ihren täglichen Skype- Sitzungen anzusprechen. Doch der Bildschirm zwischen ihnen belegte ihm Herz und Zunge mit Eis, so dass er einfach nicht unbefangen reden konnte.
T aimûr ist ohne Übertreibung der coolste Typ auf der Welt. Nett, gutaussehend, klug, sportlich, er hat einen tollen Körper und superschöne Haare. Ausserdem kriegt er in allen Fächern immer Einsen mit Sternchen.
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