Arche Noah | Roman aus Ägypten
selbst.«
U m 18 Uhr 30 hielt der Wagen vor dem Klub in al-Maâdi, die Dämmerung war bereits hereingebrochen. Sylvia sprang aus dem Auto, sie war bereits eine halbe Stunde zu spät. Der Chauffeur rief ihr noch schnell hinterher, dass er tanken und einen Ölwechsel vornehmen lassen wolle. In einer Stunde sei er zurück und würde hier auf sie warten. Sylvia ging zum Tor, doch der Wächter hielt sie an und fragte sie nach ihrem Mitgliedsausweis. Sie erläuterte ihm den Grund ihres Besuchs, ohne jedoch zu erwähnen, dass ihr Herz für einen der Spieler schlug. Als er ihr den Zutritt verweigerte, erkundigte sie sich, ob sie eine Eintrittskarte kaufenkönnte, merkte im gleichen Moment aber, dass sie ihre neue Handtasche samt Parfumfläschchen im Auto hatte liegenlassen. Sie schaute nach dem Wagen, doch er war bereits weg. Also überlegte sie, sich von jemandem ein Handy zu leihen und den Chauffeur anzurufen, doch die Telefonnummer wollte und wollte ihr nicht einfallen. Dabei rief sie den Fahrer doch mindestens zwanzigmal am Tag an! Blieb nur eine Möglichkeit: einen anderen Eingang zu finden. Sie ging die Mauer entlang und fand sich keine zwei Minuten später in einer völlig anderen Welt wieder. Gerade eben hatte auf dem Platz vor dem Eingang noch ein buntes Treiben geherrscht, Menschen, Autos, Lärm. Hier dagegen Totenstille. Eine innere Unruhe befiel sie. Und just tauchten wie aus dem Nichts drei junge Männer auf. Einer kniff sie gleich in den Po. Sylvia schrie, und kurz darauf hielt ein Polizeiwagen an und nahm sie alle mit auf die Wache.
W ürde ein Engel vom Himmel steigen und mich fragen, was mein schrecklichster Albtraum sei oder das Schlimmste, das mir widerfahren könnte, würde meine Phantasie nicht so weit reichen. Eine derartige Katastrophe würde mir nie und nimmer in den Sinn kommen. Im Volksmund spricht man doch von dem Grashalm, der dem Kamel das Rückgrat bricht. Mein Leben lang habe ich mich gefragt, was es damit auf sich hat, jetzt weiss ich es: Ich bin das Kamel, und diese unerhörte Liebe ist der Grashalm. Sylvia hat mir das Rückgrat gebrochen. Heute habe ich zum ersten Mal in der Praxis abgesagt. Auf dem Weg zur Wache hatte mir Michael unentwegt in den Ohren gelegen: »Sylvia ist mit einem Muslim aus ihrer Klasse zusammen. Wahrscheinlich hat man sie deshalb aufs Revier gebracht.« Ich rief den Pascha an, aber der spieltenatürlich wieder einmal Tennis und hatte das Handy abgestellt. Da hätte die Welt untergehen können, Hauptsache, er hat seinen Spass und verliert das Match nicht! Noch eine Minute länger in diesem Land, und ich krepiere. Als vor einer Woche dieser Bauer zu mir in die Praxis kam und von dem gekenterten Boot und den Ertrunkenen berichtete, konnte ich nicht glauben, dass Menschen sich selbst so etwas antun, ich hielt sie für verrückt. Na ja, die Feudalherrenmanier meiner Mutter überkommt auch mich hin und wieder. Nun aber bin ich so weit, dass ich mit Sylvia ein Boot besteigen und den Tod in Kauf nehmen würde, nur um sie in Sicherheit zu bringen.
D ienstag, 28. Februar 2006. Nachdem sie von der Polizeiwache zurückgekommen war, markierte sich Nivîn dieses Datum im Kalender als den Tag, an dem sie endgültig beschlossen hatte, Ägypten zu verlassen und nach Kanada auszuwandern. Sie legte den Stift auf das Kopfkissen ihres Mannes, der noch immer nicht heimgekehrt war, und griff nach dem Telefon, um zusammen mit der Verwandtschaft in Übersee eine Lösung zu finden. Sylvia sollte ihrer Ansicht nach unverzüglich das Land verlassen und ihre Prüfungen in Kanada ablegen. Wie von Sinnen legte Nivîn sich ins Zeug, um Sylvia aus der Katastrophe zu retten, die über die ganze Familie hereingebrochen war. Als Nabîl nichtsahnend heimkam, fuhr Nivîn ihn sogleich an und übergoss ihn mit den Lavaströmen ihrer Wut. Er aber erklärte ruhig, das sei völlig normal, Sylvia sei in der Pubertät und würde sich noch viele Male verlieben. Das Herz einer Jugendlichen gleiche einer Artischocke, jeden Tag spriesse ein neues Blatt.
Nabîls Gelassenheit machte sie noch rasender, und es kam zu Handgreiflichkeiten, Geschrei und Tränen. Im Wohnzimmer sassen Michael und Carol stumm und reglos da wie zwei Wachsfiguren und vergingen fast vor Angst. Carol versuchte vergeblich aufzustehen, um ihre geliebte Schwester zu trösten. In ihrer Ohnmacht gefangen, sah sie, wie Sylvia plötzlich aus ihrem Zimmer trat, zu ihr herüberkam und sich neben sie in den Sessel zwängte. Sie war in einem
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