Arche Noah, Touristenklasse
Einsamkeit auf einer Bahnstation?«
»Um zwölf -«
»Drei oder vier Monate zuvor hat er sich scheiden lassen.
Seither ist er ein gebrochener Mann. Nicht nach außen hin, o nein. Da läßt er sich nichts anmerken. Innerlich. Eine Seite seiner Seele ist gerissen. Er hat dieses Weib angebetet - ach, nicht wegen ihrer Schönheit, so schön war sie gar nicht, aber sie war eine Frau. Eine echte, heißblütige Frau. Und als er an jenem schicksalsschweren Abend aus der Botschaft nach Hause kam .«
»Um Himmels willen, das alles ist in der Rolle drin?«
»... hörte er Stimmen aus dem blauen Salon. Er schlich auf Zehenspitzen näher und sah Margaret in Stanislawskys Armen. Wie vom Schlag gerührt stand er da, unfähig, einen Laut hervorzubringen. Sein ganzes Leben zog blitzartig an ihm vorüber. Sein Heimatdorf, der alte Friedhof, der Schmied, der bucklige Schneider -«
»Salzmann -«
»Salzmann, der Schuster, seine erste Liebe, die Müllerstochter, die Überschwemmung ... Dann wandte er sich ab und ging davon, auf Zehenspitzen, wie er gekommen war. Vierzehn Tage später wurde die Ehe geschieden. Der kleine Wladimir blieb bei der Mutter. Er wuchs als ein komplexbeladenes Kind heran, litt an chronischer Appetitlosigkeit, starrte aus großen blauen Kinderaugen ins Leere -«
»Hören Sie, Podmanitzki -«
»Ich bin fertig. Und Salzmann ist sowieso schon längst weggegangen. Aber jetzt verstehen Sie die Worte, die er an Katharina Nikolajewna richtet. Wie schade, Madame, wie schade. Geht links ab. Wem gilt sein Bedauern? Der Frau? Dem Zug? >Was ist ein Zug?< hat Stanislawsky mich einmal gefragt. Nein. In diesem einen Satz liegt sein ganzes Mitleid mit der Kreatur, liegt alles Aufbegehren gegen die Tyrannis des Schicksals. Ich spiele Ihnen die Szene vor ...«
Jarden Podmanitzki stand auf, trat ein paar Schritte zurück, zerraufte sein Haar, ließ sich plötzlich zu Boden fallen und begann auf allen Vieren zu kriechen. Ich nützte die unverhoffte Chance und sprang mit kühnem Satz über ihn hinweg.
Sofort nahm er die Verfolgung auf, aber diesmal half ihm nichts. Im zweiten Stock eines nahegelegenen Hauses fand ich Asyl bei einer barmherzigen Familie.
Auch rückständige Länder wie das unsrige werden dann und wann durch den Besuch eines Künstlers von Weltruf ausgezeichnet. Das Auftreten solcher Künstler ist jedesmal ein noch nie dagewesener Erfolg, und mit Recht. Denn die Eintrittskarten sind so unverschämt teuer, daß man schon deshalb in Ekstase geraten muß, um das enorme Geldopfer zu rechtfertigen.
DIALOG UNTER FACHLEUTEN
»Haben Sie Kly ... Klyt ... Klytämnes ... haben Sie Martha Graham gesehen?« »Ja.«
»Wie hat Sie Ihnen gefallen?« »Wem? Mir?«
»Ja. Wie hat Ihnen Martha Graham gefallen?«
»Das läßt sich nicht so einfach sagen.«
»Sagen Sie's kompliziert.«
»Es war eine sehr eindrucksvolle Darbietung.«
»Was meinen Sie? Was für eine Art von Darbietung?«
»Ich meine ... Sie wissen ja. Der Tanz, und alles das. Haben Sie sie gesehen?«
»Ob ich sie gesehen habe? Dreimal habe ich sie gesehen, lieber Herr.«
»Eben. Das finde ich auch. Sie ist einfach phantastisch.«
»Meine Schwester arbeitet bei ihrem Impresario als Sekretärin.«
»Wie recht Sie haben. Wenn man Freikarten bekommen kann, so soll man sie nehmen.«
»Ich hätte die Karten auch bezahlt.«
»Selbstredend. So etwas ist ja ein einmaliges Ereignis.«
»Gar so einmalig. In der letzten Zeit wimmelt es von Truppen dieser Art.«
»Richtig. Da gehen zwölf auf ein Dutzend.«
»Ihre Truppe ist allerdings wirklich etwas Außergewöhnliches.«
»Wem sagen Sie das. Sie ist grandios.«
»Sind Sie wirklich so begeistert von ihr?«
»Bin ich denn so begeistert? Um die Wahrheit zu sagen.«
»Jedenfalls ist sie eine Persönlichkeit.«
»Ja. Ein Original.«
»Schade, daß sie keine Ahnung vom Tanzen hat.«
»Jetzt haben Sie's genau getroffen. Sie ist überhaupt keine Tänzerin, sie ist einfach.«
»Ein Genie.«
»Einfach ein Genie.«
»Sie braucht, um zu tanzen, gar keinen Tanz mehr. Sie ist über die Impulsivität der Rhythmen längst hinaus.«
»Ein wahres Wunder. Was sie da alles ausdrückt. Nur durch die bloße Bewegung, wie?«
»Tja. Hm. Ihre bloßen Bewegungen habe ich nicht so recht verstanden.«
»Ich auch nicht. Das reinste Abrakadabra.«
»Nicht unbedingt.«
»Genügt es denn nicht, daß ihr schöpferischer Bewegungsakt bis in die innersten Wurzeln unserer Erlebnisbereitschaft vorstößt?«
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