Archer Jeffrey
um über die Wiesen zu den Ufern des Cherwell zu wandern. Während er den gewundenen Pfad entlangging, glaubte er, vor sich seine Rivalin zu erspähen, die unter einem Baum saß und las. Er überlegte, ob er umkehren sollte, kam aber zu dem Schluß, daß sie ihn vielleicht schon gesehen hatte; also ging er weiter.
Er war Philippa seit drei Tagen nicht begegnet, obwohl sie aus seinen Gedanken nur selten verschwunden war: hatte er erst einmal den Oldham-Preis gewonnen, würde das dumme Frauenzimmer von ihrem hohen Roß heruntersteigen müssen! Er lächelte bei dem Gedanken und beschloß, einfach lässig an ihr vorüberzuschlendern. Als er näher kam, warf er einen kurzen Blick in ihre Richtung und spürte schon, wie er im voraus rot wurde, noch ehe sie ihre unvermeidliche, stets richtig getimte spitze Bemerkung anbringen konnte. Nichts geschah, also sah er genauer hin, um bei näherer Betrachtung zu entdecken, daß Philippa nicht las: sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und schien leise zu schluchzen. Er ging lang sanier: vor ihm saß nicht die furchterregende Rivalin, die ihm drei Jahre lang stets dicht auf den Fersen gewesen war, sondern ein verlorenes, einsames Geschöpf, das ziemlich hilflos aussah.
Williams erste Reaktion war der Gedanke, daß der Name des Preisträgers durchgesickert sein mußte und er tatsächlich den Sieg davongetragen hatte. Bei genauerer Überlegung konnte dies jedoch nicht der Fall sein. Die Prüfer hatten die Arbeiten erst an diesem Morgen erhalten, und da jede eingereichte Arbeit von allen Jurymitgliedern gelesen wurde, konnten die Resultate frühestens am Ende der Woche vorliegen. Philippa sah nicht auf, als er neben ihr anlangte – er war nicht einmal sicher, ob sie seine Gegenwart überhaupt wahrnahm. Als William stehenblieb, um seine Gegnerin zu betrachten, konnte er nicht umhin zu bemerken, wie ihr langes rotes Haar sich ringelte, wo es die Schulter berührte. Er setzte sich neben sie, doch sie regte sich immer noch nicht.
„Was ist denn los?“ fragte er. „Kann ich irgend etwas tun?“
Sie hob den Kopf, und er sah, daß ihr Gesicht vom Weinen gerötet war.
„Nein, nichts, William, außer mich in Ruhe lassen. Du beraubst mich der Einsamkeit, ohne mir deshalb Gesellschaft zu leisten.“
William freute sich, daß er die zarte literarische Anspielung sofort erkannt hatte. „Was ist los, Madame de Sévigné?“ fragte er, mehr aus Neugierde als aus Sorge, hin und her gerissen zwischen Mitgefühl und der Freude, sie zu ertappen, während sie sich eine Blöße gab. „Mein Vater ist heute morgen gestorben“, sagte sie schließlich, als spräche sie zu sich selbst.
Es fiel William plötzlich auf, wie seltsam es war, daß er, obwohl er Philippa seit drei Jahren beinahe täglich sah, nichts von ihrem Privatleben wußte. „Und deine Mutter?“
„Sie ist gestorben, als ich drei war. Ich erinnere mich nicht einmal an sie. Mein Vater…“, sie hielt inne, „…war Geistlicher und erzog mich, er hat alles hingegeben, damit ich nach Oxford gehen konnte, sogar das Familiensilber. Ich hatte mir so sehr gewünscht, ihm zuliebe den Charles-Oldham-Preis zu gewinnen.“
William legte versuchsweise den Arm auf Philippas Schulter.
„Rede keinen Unsinn. Wenn du den Preis bekommst, wird du zum College-Superstar des Jahrzehnts erklärt, denn schließlich müßtest du erst mich ausbooten, um ihn zu kriegen.“
Sie machte einen ungeschickten Versuch zu lachen. „Natürlich wollte ich dich schlagen, William, aber nur meinem Vater zuliebe.“
„Woran ist er gestorben?“
„Krebs, aber er hat es mich nie merken lassen. Er bat mich, nicht vor den Sommerferien nach Hause zu kommen, da er spürte, die Krise könnte mit meinen Schlußprüfungen und dem Oldham-Preis zusammenfallen. Und dabei hat er mich die ganze Zeit über von sich fern gehalten, weil er wußte, daß es für mich mit der ernsthaften Arbeit vorbei sein würde, wenn ich seinen Zustand sähe.“
„Wo bist du zu Hause?“ fragte William, neuerlich erstaunt, daß er es nicht wußte.
„In Brockenhurst. Hampshire. Ich fahre morgen früh hin. Das Begräbnis ist am Mittwoch.“
„Darf ich dich hinbringen?“ fragte William.
Philippa blickte auf und bemerkte in den Augen ihres Widersachers eine Sanftmut, die sie nie zuvor gesehen hatte. „Das wäre nett, William.“
„Also dann los, du dummes Weibsbild“, sagte er. „Ich begleite dich zu deinem College zurück.“
„Letztes Mal, als du mich ‘dummes Weibsbild’ genannt hast, hast
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