Archer Jeffrey
sprang als
erster Tom Carson, das neue Mitglied von Liverpool Dockside,
auf und ließ eine wütende Tirade gegen die Regierung vom
Stapel, der er vorwarf, konservativer zu sein als die
Konservativen. Die geflüsterten Bemerkungen und das Gehüstel
zeigten, wie wenig Unterstützung seine Ansicht fand. TomCarson hatte sich dadurch, daß er vom Tag seiner Ankunft an
die eigene Partei angriff, sehr rasch einen Namen gemacht. » Enfant terrible « , murmelte Andrews Nachbar zur Rechten. »Ich würde ihn nicht mit diesen Worten beschreiben«,
antwortete Andrew leise. »Man kann es auch kürzer sagen.« Der
Mann mit dem gelockten roten Haar lächelte, während Carson
weiterschimpfte.
Wenn Raymond Gould sich während dieser ersten sechs
Wochen einen Namen gemacht hatte, dann als einer der
Intellektuellen der Partei. Deshalb betrachteten ihn die älteren
Mitglieder auch mit Mißtrauen, obwohl niemand daran zweifelte, daß er als einer der ersten unter den Neulingen vorrücken würde. Niemand kannte Raymond so richtig, der Mann aus dem Norden wirkte erstaunlich schüchtern. Mit einer Mehrheit von 10.000 Stimmen in seinem Wahlkreis schien ihm
jedoch eine lange Laufbahn sicher.
Leeds North hatte aus siebenunddreißig Kandidaten Raymond
ausgewählt, weil er sich um so viel informierter gezeigt hatte als
ein lokaler Gewerkschaftler, den die Presse als Favoriten
genannt hatte. In Yorkshire schätzte man Leute, die zu Hause
bleiben, und Raymond hatte dem Wahlkomitee sofort in breitem
Yorkshire-Dialekt mitgeteilt, daß er eine an der Peripherie
seines Wahlkreises gelegene Schule besucht habe. Was jedoch
wirklich den Ausschlag gab, war Raymonds Ablehnung eines
Stipendiums für Cambridge. Er wollte seine Ausbildung lieber
an der Universität von Leeds fortsetzen, sagte er.
Er promovierte mit Auszeichnung und übersiedelte nach
London, um am Lincoln’s Inn seine Ausbildung als Anwalt zu
beenden. Nach zwei Jahren trat er in ein bekanntes Anwaltsbüro
ein und wurde ein gesuchter Rechtsberater. Von diesem Moment
an erwähnte er im Kreis seiner sorgfältig ausgewählten Freunde
aus den Wahlbezirken um London kaum je seine Vergangenheit;
jene, die ihn als Ray ansprachen, wurden mit einem scharfen
»Raymond« zurechtgewiesen.
Die Parteiversammlung löste sich auf, und Raymond und
Andrew verließen den Raum – Andrew, um in sein winziges
Büro zu gehen und die Post zu erledigen, Raymond, um in den
Sitzungssaal zurückzukehren, weil er an diesem Tag seine
Antrittsrede zu halten hoffte. Er hatte geduldig auf den richtigen
Moment gewartet, um dem Unterhaus seine Ansichten über
Witwenpensionen und die Tilgung der Kriegsanleihen zu
unterbreiten; die Debatte über die Wirtschaftslage schien die
gegebene Gelegenheit. Der Speaker hatte Raymond wissen
lassen, daß er ihn vermutlich am frühen Abend aufrufen werde. Raymond hatte viele Stunden damit zugebracht zu studieren, wodurch sich die Sprechtechnik im Parlament von jener im Gerichtssaal unterscheidet. F. E. Smith hatte seine Kollegen richtig bewertet, als er das Unterhaus als einen lärmenden Gerichtssaal mit mehr als sechshundert Geschworenen und weit und breit keinem Richter beschrieb. Raymond fürchtete sich vor seiner Jungfernrede; die kühle Logik seiner Argumente wurde stets mehr von den Richtern geschätzt als von den
Geschworenen.
Als er zum Sitzungssaal kam, übergab ihm ein Diener ein paar
Zeilen seiner Frau Joyce. Sie hatte einen Platz auf der
Besuchergalerie gefunden, um seine Rede mitanzuhören. Nach
einem flüchtigen Blick zerriß Raymond den Brief, warf ihn in
den nächsten Papierkorb und eilte in den Saal. Die Tür wurde
eben für einen hinauseilenden Konservativen geöffnet. »Danke«, sagte Raymond. Simon Kerslake erwiderte das
Lächeln und versuchte sich vergeblich an Rays Namen zu
erinnern. In der Members’ Lobby prüfte er die Nachrichtentafel,
ob das Licht unter seinem Namen leuchtete. Kein Licht, also
verließ er das Gebäude und ging zum Parkplatz. Er fuhr in
Richtung St. Mary’s Paddington, um seine Frau abzuholen.
Während der letzten sechs Wochen hatten sie einander kaum
gesehen, daher war der heutige Abend etwas Besonderes.
Vermutlich würde es so weitergehen, bis Neuwahlen
ausgeschrieben wurden und eine der Parteien eine arbeitsfähige
Mehrheit erhielt. Was Simon, der seinen Sitz nur ganz knapp
gewonnen hatte, jedoch am meisten fürchtete, war eine
arbeitsfähige Mehrheit, die ihn nicht miteinschloß. Damit hätte
eine der kürzesten politischen Karrieren der
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