Archer Jeffrey
das war es auch. In der zweiten Nacht ihrer Flitterwochen erlitt sie eine Fehlgeburt.
»Vermutlich durch all diese Aufregung«, meinte Raymonds Mutter nach der Rückkehr. »Aber ihr könnt ja bald wieder eins haben, nicht wahr?«
Raymond zeigte jedoch keinerlei Interesse daran. Seit diesen Flitterwochen waren zehn Jahre vergangen. Er übersiedelte nach London, wurde Anwalt und hatte sich damit abgefunden, ein Leben lang mit dieser Frau geschlagen zu sein. Obwohl Joyce erst zweiunddreißig war, mußte sie die hübschen Beine, die ihm einst so gefallen hatten, bereits bedecken. Wie konnte man für einen so lächerlichen Irrtum so schwer bestraft werden, hätte Raymond gerne die Götter gefragt. Für wie reif hatte er sich gehalten – und wie unreif war er tatsächlich gewesen. Eine Scheidung hätte das Ende seiner politischen Ambitionen bedeutet: die Leute aus dem Yorkshire wählten niemals einen geschiedenen Mann. Um der Gerechtigkeit willen, mußte Raymond zugeben, daß nicht alles katastrophal war; die Leute liebten Joyce. Während der Wahlkampagne kam sie viel besser mit den Gewerkschaftlern und ihren gräßlichen Frauen zurecht als er. Er mußte auch zugeben, daß Joyce zu seinem Sieg wesentlich beigetragen hatte. Wie brachte sie es nur zustande, immer so ehrlich zu wirken? fragte er sich. Es fiel ihm nicht ein, daß sie es von Natur aus war.
»Warum kaufst du dir nicht ein neues Kleid für Downing Street?« fragte er jetzt, als sie vom Frühstück aufstanden. Sie lächelte; seit sie denken konnte, hatte er noch nie einen solchen Vorschlag gemacht. Joyce gab sich keinen Illusionen über sich und ihren Mann hin. Aber vielleicht sah er allmählich ein, daß sie ihm helfen konnte, seine heimlichen Wünsche zu realisieren.
Am Abend des Empfanges in Downing Street gab Joyce sich alle Mühe, gut auszusehen. Sie verbrachte den Vormittag bei Harvey Nichols, um nach einem passenden Kleid zu suchen, und kehrte schließlich mit einem Kostüm zurück, das ihr auf den ersten Blick gefallen hatte. Es paßte nicht tadellos, doch die Verkäuferin versicherte Joyce: »Madam sieht sensationell aus.« Sie konnte nur hoffen, daß Raymonds Kommentar halb so schmeichelhaft sein würde. Als sie nach Hause kam, stellte sie fest, daß sie nichts besaß, was zu den ungewohnten Farben des Kostüms paßte.
Raymond kehrte spät aus dem Parlament zurück und war zufrieden, daß Joyce schon fertig war, als er aus dem Bad kam. Eine Bemerkung über die Schuhe, die nicht zu dem Kostüm paßten, hielt er zurück. Als sie nach Westminster fuhren, ging er mit ihr die Namen aller Kabinettsmitglieder durch, und Joyce mußte sie wiederholen, wie ein Schulkind. Die Abendluft war angenehm frisch;
Raymond parkte seinen Sunbeam im New Palace Yard, und gemeinsam schlenderten sie Whitehall entlang zu No. 10. Ein einsamer Polizist bewachte die Tür. Als er Raymond sah, klopfte er einmal mit dem Messingklopfer, und für das junge Mitglied und seine Frau wurde die Tür geöffnet.
Verlegen warteten Raymond und Joyce in der Halle. Jemand kam und führte sie in den ersten Stock. Langsam stiegen sie die Treppe hinauf – sie war weniger großartig als Raymond erwartet hatte –, vorbei an den Bildern früherer Premierminister. »Zu viele Konservative«, murmelte Raymond, als sie an den Porträts von Chamberlain, Churchill, Eden, Macmillan und Home vorbeigingen; Attlee war das einzige Gegengewicht.
Am Ende der Treppe stand Harold Wilson, die Pfeife im Mund, um seine Gäste zu begrüßen. Raymond wollte eben seine Frau vorstellen, als der Premier sagte: »Wie geht es Ihnen, Joyce? Ich freue mich, daß Sie kommen konnten.«
»Kommen konnte? Die ganze Woche habe ich mich darauf gefreut.« Bei dieser Offenherzigkeit zuckte Raymond zusammen, und Wilsons Lachen entging ihm.
Raymond unterhielt sich mit der Frau des Premierministers über die Schwierigkeit, Lyrik zu veröffentlichen, bis sie sich abwandte, um neue Gäste zu begrüßen. Dann ging er ins Wohnzimmer, sprach mit Kabinettsmitgliedern, Gewerkschaftlern und deren Frauen, behielt aber Joyce immer mißtrauisch im Auge. Sie war in ein Gespräch mit dem Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes vertieft.
Raymond begrüßte den amerikanischen Botschafter, der Andrew Fraser erzählte, wie er die Edinburgher Festspiele genossen hatte. Raymond beneidete Fraser um sein selbstverständliches, lockeres Auftreten; er wußte, daß dieser Schotte ein nicht zu unterschätzender Rivale war.
»Guten Abend, Raymond«,
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