Archer Jeffrey
immer seine Kollegen vom Tanzparkett zurückkehrten – jedesmal mit einer anderen Partnerin – grinste er sie freundlich an. Dabei war er gar nicht sicher, die richtige Person anzulachen, denn die Brille vom Gesundheitsdienst steckte in der Innentasche seiner Jacke. Er begann zu überlegen, wann er weggehen könnte, ohne zuzugeben, daß der Abend für ihn ein totales Fiasko war. Plötzlich sprach ihn jemand an. Der Akzent, die Stimme klangen vertraut.
»Gehen Sie auch auf die Universität?«
»Was heißt auch?« fragte er, ohne die Fragerin anzusehen. »Wie Ihr Freund.«
»Ja«, erwiderte er und warf einen Blick auf das ungefähr gleichaltrige Mädchen.
»Ich bin aus Bradford.«
»Ich aus Leeds«, stammelte er, und bei jedem Wort wurde das Rot auf seinen Wangen dunkler.
»Ich heiße Joyce«, fügte sie hinzu.
»Und ich Ray – Raymond.«
»Willst du tanzen?«
Gern hätte er ihr gesagt, daß er kaum je ein Tanzparkett betreten hatte, doch er brachte den Mut nicht auf. Wie eine Marionette stand er auf und ließ sich zur Tanzfläche führen. Wieso hatte er sich eingebildet, daß er eine Führernatur sei? Auf dem Tanzparkett angelangt, sah er Joyce zum erstenmal richtig an. Sie sah gar nicht schlecht aus, hätte jeder normale Junge aus Yorkshire gefunden. Etwa einen Meter sechzig groß, ein wenig zu stark geschminkte dunkelbraune Augen und dunkles Haar, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug einen rosa Lippenstift, der zu der Farbe des kurzen Rockes paßte, unter dem zwei hübsche Beine zu sehen waren. Sie wurden noch hübscher, wenn sie sich zu den Klängen der Vier-Mann-Band im Kreise drehte. Raymond stellte fest, daß er, wenn er sie rasch herumwirbelte, den Strumpfansatz sehen konnte. Als das Quartett die Instrumente einpackte, gab sie ihm einen GuteNacht-Kuß. Langsam wanderte er zu seinem kleinen Zimmer über dem Fleischerladen zurück.
Am folgenden Sonntag ging er, um die Initiative zu ergreifen, mit Joyce auf den Fluß rudern. Doch beim Rudern war er nicht geschickter als beim Tanz, und alle auf dem Fluß überholten ihn, ein tüchtiger Schwimmer inbegriffen. Ängstlich wartete er auf ein spöttisches Lachen, aber Joyce lächelte nur und erzählte, wie sehr sie Bradford vermisse und daß sie wieder zurückgehen wolle. Raymond wußte nach den ersten Wochen an der Universität, daß er möglichst weit fort wollte von Leeds, aber er gab es nicht zu. Nachdem sie das Boot zurückgerudert hatten, lud Joyce ihn in ihr Zimmer zum Tee ein. Ray wurde dunkelrot, als sie an der Zimmervermieterin vorbeikamen, und ließ sich rasch von Joyce die schmale Treppe hinaufschieben.
Während Joyce zwei Tassen Tee ohne Milch zubereitete, saß Raymond auf dem schmalen Bett. Und nachdem beide so getan hatten, als hätten sie getrunken, setzte sie sich zu ihm, die Hände im Schoß gefaltet. Ray lauschte angespannt der Sirene einer Ambulanz, die in der Ferne verklang. Sie beugte sich vor, küßte ihn und legte seine Hand auf ihr Knie. Sie öffnete die Lippen und ihre Zungen berührten sich. Die Empfindung war ganz seltsam, ja erregend, fand er. Er hielt die Augen geschlossen, während sie ihn von einer Stufe zur nächsten führte, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte und das tat, was seine Mutter einmal als Todsünde bezeichnet hatte.
»Das nächstemal wird es einfacher sein«, sagte sie scheu und stand auf, um ihre Kleider vom Boden aufzusammeln. Sie behielt recht. Nach einer Stunde nahm er sie wieder, und diesmal blieben seine Augen weit offen.
Sechs Monate vergingen, bevor Joyce von der Zukunft sprach. Zu diesem Zeitpunkt fand Raymond sie schon langweilig, und sein Interesse galt einer klugen kleinen Mathematikstudentin aus Surrey. Als er eben seinen ganzen Mut zusammengenommen hatte, um Joyce mitzuteilen, daß die Sache vorbei sei, eröffnete sie ihm, daß sie schwanger war. Sein Vater hätte nach der Fleischaxt gegriffen, hätte er eine illegale Abtreibung vorgeschlagen. Seine Mutter zeigte sich entzückt, daß Joyce aus dem Yorkshire war. Mrs. Gould hatte für Fremde nicht viel übrig.
Raymond und Joyce wurden während der großen Sommerferien in Bradford getraut. Raymond war so unglücklich und Joyce so glücklich, daß sie mehr Vater und Tochter glichen als Bräutigam und Braut. Nach der Trauung fuhr das junge Paar nach Dover, um die Nachtfähre zu nehmen. Die erste Nacht des Mr. und der Mrs. Gould war eine Katastrophe: Raymond wurde seekrank. Joyce konnte nur hoffen, daß Paris denkwürdiger sein werde – und
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