Archer Jeffrey
Geschichte ein
Ende gefunden. Nach einer so langen Tory-Regierung schien die
neue Labour-Regierung frisch und voller Ideale. Bestimmt
würde sie eine große Mehrheit erhalten, wann immer der
Premierminister sich zu Neuwahlen entschloß.
Simon erreichte Marble Arch und dachte zurück, wie er
Parlamentsmitglied geworden war. Nach Oxford hatte er zwei Jahre bei der Sussex Light Infantry gedient und war als Leutnant ausgemustert worden. Nach kurzen Ferienwochen ging er zu BBC und arbeitete dort fünf Jahre – zuerst in der Abteilung Fernsehspiel, dann beim Sport, dann beim Aktuellen Dienst, bis er schließlich Leiter des »Panorama« wurde. Damals hatte er eine kleine Wohnung in Earl’s Court gemietet, und da er politisch ambitioniert war, wurde er Mitglied der Tory Bow Group. Nach seiner Ernennung zum Sekretär organisierte er Versammlungen, schrieb Broschüren und sprach bei Versammlungen, bis man ihn einlud, während des Wahlkampfes von 1959 als persönlicher Assistent des Obmannes in der
Parteizentrale zu arbeiten.
Zwei Jahre später, als »Panorama« eine Untersuchung des
National Health Service durchführte, lernte er Elizabeth
Drummond kennen. Man hatte sie als Teilnehmerin eingeladen.
Vor der Sendung machte Elizabeth ihm bei einem Drink
unmißverständlich klar, daß sie den Medien-Leuten mißtraute
und Politiker haßte. Ein Jahr später waren sie verheiratet.
Elizabeth bekam zwei Söhne, nahm jedoch jedesmal nur kurz
Urlaub, um ihre Karriere als Ärztin nicht zu unterbrechen. Simon verließ die BBC ziemlich plötzlich, als man ihm im
Sommer 1964 Gelegenheit bot, den gefährdeten Wahlkreis von
Coventry Central zu verteidigen; Es gelang ihm, mit einer
Mehrheit von 1.109 Stimmen den Platz zu halten.
Er parkte vor dem Krankenhaus und sah auf die Uhr. Ein paar
Minuten zu früh. Er schob den braunen Haarschopf aus der Stirn
und dachte an den bevorstehenden Abend. Zur Feier ihres
vierten Hochzeitstages wollte er Elizabeth ausführen, und er
hatte auch ein paar Überraschungen für sie bereit. Dinner bei
Mario & Franco, ein paar Stunden im Establishment Club und
dann zum erstenmal seit Wochen zusammen nach Hause zu
gehen.
»Hm«, sagte er und genoß den Gedanken.
»Hallo, Fremdling«, sagte die Dame, die zu ihm ins Auto
sprang und ihn küßte. Simon starrte die Frau mit dem
strahlenden Lächeln und dem langen blonden Haar an, das ihr
über die Schultern fiel. Er hatte sie an jenem Abend vor fünf
Jahren angestarrt, als sie das »Panorama«-Studio betrat, und
seitdem hatte er kaum aufgehört, sie anzustarren.
Er startete den Wagen. »Willst du eine gute Nachricht hören?«
fragte er und wartete ihre Antwort gar nicht ab. »Heute abend
habe ich einen Partner. Das bedeutet Dinner bei Mario &
Franco, dann ins Establishment, dann nach Hause und …« »Willst du eine schlechte Nachricht hören?« fragte Elizabeth,
und auch sie wartete seine Antwort nicht ab. »Wegen der
Grippeepidemie haben wir zu wenig Personal. Ab zehn Uhr
abend muß ich im Dienst sein.«
Simon stellte den Motor ab. »Was ziehst du also vor: Dinner,
Tanzen oder direkt nach Hause?«
Elizabeth lachte. »Wir haben drei Stunden Zeit«, sagte sie.
»Vielleicht reicht es sogar für ein Dinner.«
2
Raymond Gould sah die Einladung an. Noch nie hatte er No. 10 Downing Street von innen gesehen – ebensowenig wie die meisten Sozialisten während der letzten dreizehn Jahre. Er schob die geprägte Karte seiner Frau über den Frühstückstisch zu.
»Soll ich annehmen oder absagen, Ray?« fragte sie in ihrem breiten Yorkshire Dialekt.
Joyce war die einzige, die ihn immer noch Ray nannte, und selbst ihr schwacher Versuch zu scherzen ging ihm auf die Nerven. Die griechischen Tragödiendichter bauten ihre Dramen auf den schicksalhaften Fehler auf; Ray wußte genau, was damit gemeint war.
Er hatte Joyce bei einem Tanzabend kennengelernt, den die Krankenschwestern vom Leeds General Hospital gaben. Eigentlich wollte er nicht hingehen, doch ein Studienkollege aus Roundhay hielt es für eine angenehme Abwechslung. In der Schule hatte sich Raymond nie für Mädchen interessiert, weil seine Mutter ständig darauf hinwies, dazu sei noch Zeit, wenn er die Abschlußprüfung hinter sich hätte. Als er an die Universität kam, war er überzeugt, dort die einzige ›Jungfrau‹ zu sein.
Er verbrachte den Abend allein in einer Ecke des üppig mit Lampions und grellorangefarbenen Girlanden dekorierten Saals und saugte verdrossen mit einem Strohhalm seinen alkoholfreien Drink. Wann
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