Archer Jeffrey
sagte Abel dringlicher. Die alte Frau betrachtete ihn nicht und fuhr fort, vor sich hin zu plappern, als wäre sie allein.
»Sie haben meinen Jasio umgebracht und alle meine hübschen Kinder in ein Lager geschafft, alle außer Sophia. Ich hab sie versteckt und sie sind fortgegangen.«
Ihre Stimme war gelassen und resigniert.
»Was geschah mit der kleinen Sophia?« fragte Abel.
»Die Russen haben sie im Zweiten Krieg mitgenommen«, sagte sie tonlos.
Abel zitterte.
Die alte Frau riß sich von ihren Erinnerungen los. »Was wollen Sie? Warum stellen Sie mir so viele Fragen?«
»Ich möchte, daß Sie meine Tochter Florentyna kennenlernen.«
»Einmal hatte ich eine Tochter, die hieß Florentyna. Aber jetzt bin nur mehr ich übrig.«
»Aber ich…« begann Abel und öffnete sein Hemd.
Florentyna hielt ihn zurück. »Das wissen wir«, sagte sie und lächelte die alte Frau an.
»Wie können Sie das wissen? Das alles geschah lang, bevor Sie auf die Welt gekommen sind.«
»Man hat es uns im Dorf erzählt«, sagte Florentyna.
»Haben Sie vielleicht ein wenig Papier?« fragte die Alte. »Ich brauche Papier für das Feuer.«
Abel schaute Florentyna hilflos an. »Nein«, sagte er, »leider haben wir kein Papier mit.«
»Was wollen Sie hier?«
Die Alte klang wieder feindselig.
»Nichts«, erwiderte Abel und fand sich damit ab, daß sie ihn nicht wiedererkennen würde. »Wir wollten Ihnen nur guten Tag sagen.«
Er zog die Brieftasche und übergab ihr alles polnische Geld, das er an der Grenze eingewechselt hatte.
»Danke, danke«, sagte sie bei jeder Note, und ihre alten Augen wurden naß vor Glück.
Abel beugte sich vor, um seine Ziehmutter zu küssen, aber sie wandte sich ab.
Florentyna nahm den Arm ihres Vaters, führte ihn aus dem kleinen Haus und den Waldweg hinunter zum Auto.
Die alte Frau schaute ihnen aus dem Fenster nach, bis sie die beiden nicht mehr sehen konnte. Dann nahm sie die neuen Banknoten, zerdrückte jede Note zu einem kleinen Knäuel und legte sie sorgfältig in den Kamin. Sie fingen sofort Feuer. Die Frau legte Zweige und kleine Holzscheite auf die brennenden Zloty, setzte sich zum Feuer, dem besten seit Wochen, und wärmte ihre Hände.
Auf dem Rückweg sprach Abel kein Wort, bis man wieder das Eisentor sehen konnte. Er versuchte das kleine Haus zu vergessen und versprach Florentyna: »Jetzt wirst du das schönste Schloß der Welt sehen.«
»Hör auf, so zu übertreiben, Daddy.«
»Auf der ganzen Welt«, wiederholte Abel leise.
Florentyna lachte. »Wir werden sehen, wie es den Vergleich mit Versailles aushält.«
Sie stiegen ins Auto, Abel fuhr durch das Tor und dachte an den Wagen, in dem er das letztemal hier durchgefahren war. Sie fuhren zwei Kilometer weit bis zum Schloß. Erinnerungen umfingen Abel. Glückliche Kindheitstage mit dem Baron und Leon, unglückliche Tage, als ihn die Russen von seinem geliebten Schloß wegbrachten und er glaubte, es nie mehr wiederzusehen. Jetzt aber kehrte er, Wladek Koskiewicz, zurück, kehrte im Triumph zurück, um sein Eigentum zu fordern.
Das Auto fuhr die gewundene Einfahrt hinauf, und beide schwiegen erwartungsvoll, als sie zur letzten Biegung vor dem Schloß des Baron Rosnovski kamen. Abel hielt an und starrte auf sein Schloß. Keiner sprach. Fassungslos schauten sie auf die ausgebombten Ruinen.
Langsam stiegen Abel und Florentyna aus. Noch immer sprachen sie nicht. Florentyna hielt die Hand ihres Vaters fest, während Tränen seine Wangen hinabliefen. Nur eine Wand stand noch und erinnerte an längst vergangene Pracht. Alles andere war ein Trümmerhaufen. Abel war nicht imstande, seiner Tochter von den großen Hallen, den Wohntrakten, den Küchen und Schlafzimmern zu erzählen. Abel ging zu den drei Hügeln, die jetzt dicht mit Gras bewachsen waren: die Gräber des Barons, seines Sohnes Leon und Abels geliebter Florentyna. Vor jedem Grabhügel blieb er stehen und dachte daran, daß Leon und Florentyna heute noch am Leben sein könnten. Er kniete nieder, und die Erinnerung an die furchtbaren Augenblicke vor ihrem Tod kehrte zurück. Seine Tochter stand schweigend neben ihm, ihre Hand lag auf seiner Schulter. Eine lange Zeit verging, bevor Abel aufstand. Gemeinsam kletterten sie über die Trümmer. Steinhaufen markierten die Orte, an denen einmal herrliche, von Lachen erfüllte Räume gewesen waren. Abel schwieg. Hand in Hand gingen sie in die Kerker hinunter. Abel setzte sich auf den feuchten Boden nahe dem winzigen Gitterfenster - oder dem, was von dem Gitterfenster
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