Archer Jeffrey
der unterdrückten Massen zu sprechen?« fragte William den erstaunten Leiter. Es ärgerte ihn ein wenig, daß Außenstehende seine Überzeugungen nur aus der Tatsache ableiteten, daß er einen bekannten Namen und eine gutgehende Bank geerbt hatte.
»Nun, William, wir glaubten, daß deine Sympathien bei, eh, bei…« »Richtig. Ich nehme die Einladung an. Darf ich meinen Partner auswählen?«
»Natürlich.«
»Gut, dann wähle ich Matthew Lester. Darf ich wissen, wer unsere
Gegner sein werden?«
»Das wirst du erst am letzten Tag erfahren, wenn die Plakate
angeschlagen werden.«
Während des nächsten Monats benutzten Matthew und William,
anstatt beim Frühstück die rechts- und linksgerichteten Zeitungen zu
kommentieren und abends über den Sinn des Lebens zu diskutieren,
jede freie Minute dazu, eine Strategie für die »Große Debatte«, wie sie auf dem Campus bereits genannt wurde, zu entwerfen. William
entschied, daß Matthew als erster sprechen solle.
Als der schicksalsschwere Tag näherrückte, zeigte es sich, daß
beinahe alle politisch interessierten Studenten, Professoren und sogar
einige prominente Leute aus Boston und Cambridge der Debatte
beiwohnen würden. Am Morgen vor der Diskussion gingen William
und Matthew hinüber in den Hof, um festzustellen, wer ihre Gegner
sein würden.
»Leland Crosby und Thaddeus Cohen. Sagt dir einer der Namen
etwas, William? Crosby muß einer der Crosbys aus Philadelphia sein,
nehme ich an.«
»Natürlich. ›Der Verrückte vom Ritterhouse Square‹, wie ihn seine
eigene Tante einmal so treffend nannte. Er ist der überzeugendste
Revolutionär auf dem Campus; hat viel Geld und gibt es für alle
populären radikalen Bewegungen aus. Ich kann jetzt schon seine
Eröffnungsrede höre.«
William parodierte Crosbys schneidenden Tonfall. ›»Ich kenne die
Gier und den absoluten Mangel an gesellschaftlicher Verantwortung
der amerikanischen Reichen aus erster Hand.‹ Wenn nicht jeder im
Publikum das bereits fünfzigmal gehört hätte, könnte er einen
ausgezeichneten Gegner abgeben.«
»Und Thaddeus Cohen?«
»Noch nie von ihm gehört.«
Ohne ihr Lampenfieber einzugestehen, gingen sie am folgenden
Abend durch Schnee und Wind an den glänzenden Säulen der kürzlich
fertiggestellten Widener Library vorbei - der Sohn des Erbauers war,
wie Williams Vater, mit der Titanic untergegangen zur Bolyston Hall.
Ihre schweren Wintermäntel flatterten im Schneetreiben.
»Falls wir geschlagen werden, wird es nur wenige Zeugen geben,
bei so einem Wetter wenigstens«, bemerkte Matthew hoffnungsvoll. Als sie den Eingang der Bibliothek erreichten, sahen sie jedoch
einen Strom vermummter, pustender Gestalten, die die Treppe
hinaufstiegen und allmählich den Saal füllten. Man wies William und
Matthew Sitze auf dem Podium an. William saß ganz still, aber seine
Augen suchten bekannte Gesichter im Publikum: Präsident Lowell saß
diskret in der Mittelreihe; der Botanikprofessor aus St. John; einige
Blaustrümpfe, die er von Parties im Red House kannte; und zu seiner
Rechten eine Gruppe etwas verwildert aussehender junger Männer
und Frauen - einige trugen nicht einmal Krawatten -, die Beifall zu klatschen begannen, als ihre Sprecher Crosby und Cohen das Podium
betraten.
Crosby war der auffallendere von beiden: groß und hager, beinahe
wie eine Karikatur, nachlässig gekleidet - oder vielleicht trug er den
schäbigen Tweedanzug absichtlich, jedoch mit einem steif gebügelten
Hemd und einer Pfeife, die so lässig herunterhing, daß sie mit seinem
Körper nur durch die Unterlippe verbunden schien. Thaddeus Cohen
war kleiner, trug eine randlose Brille und einen fast zu tadellos
geschnittenen dunklen Kammgarnanzug.
Die vier Sprecher schüttelten einander zögernd die Hand, während
die letzten Vorbereitungen getroffen wurden. Die sieben
Glockenschläge der nur dreißig Meter entfernten Memorial Church
klangen vage und fern.
»Mr. Leland Crosby junior«, sagte der Leiter.
Bei Crosbys Rede gratulierte William sich selbst. Er hatte alles
vorausgesehen - den scharfen Tonfall, die überbetonten, beinahe
hysterischen Argumente. Crosby stimmte die Beschwörungsformeln
des amerikanischen Radikalismus an: Haymarket, Money Trust,
Standard Oil, sogar Cross of Gold. William fand, daß er sich
bestenfalls in Szene gesetzt hatte, obwohl er von seiner Claque den
erwarteten Applaus erntete. Als Crosby sich niedersetzte, hatte er
offensichtlich keine neuen Anhänger gewonnen und vielleicht sogar
einige der alten
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