Archer Jeffrey
er bereits so viel Gewinn, daß er jedem in seiner Familie ein Paar Schuhe hatte kaufen können; überdies konnten sie sich jetzt regelmäßig zwei Mahlzeiten am Tag leisten. Am liebsten hätte Lubji seiner Mutter klipp und klar gesagt, daß es sinnlos war, Rabbi zu werden, wo sein größtes Ziel doch darin bestand, ein Geschäft auf dem leeren Grundstück neben Herrn Lekskis Laden zu errichten.
Herr Lekski schloß das Geschäft und nahm sich den Tag frei, um den angehenden Oberschüler mit dem Wagen nach Ostrau zu bringen. Auf der langen Fahrt sagte Herr Lekski, er hoffe, daß Lubji nach Schulabschluß das Juweliergeschäft übernehmen werde – worauf Lubji sofort zurück nach Hause wollte. Erst nach langem Zureden nahm er seine kleine lederne Reisetasche, die er beim letzten Geschäft des vergangenen Tages erstanden hatte, und schritt durch den großen steinernen Torbogen, der zur Oberschule führte. Hätte Herr Lekski zum Schluß nicht hinzugefügt, daß er Lubji sein Geschäft nur dann anvertrauen würde, wenn dieser die fünfjährige Schulzeit auf sich nahm, wäre der Junge, ohne zu zögern, wieder in den Wagen gesprungen.
Lubji stellte bald fest, daß es auf der Oberschule keine anderen Schüler gab, die aus so ärmlichen Verhältnissen stammten wie er. Einige seiner Klassenkameraden ließen es Lubji direkt oder indirekt spüren, daß er aus einer anderen Gesellschaftsschicht kam, mit deren Angehörigen sie nicht unbedingt verkehren wollten. Im Laufe der nächsten Wochen mußte Lubji zudem erkennen, daß die Fähigkeiten, die er sich als Händler auf dem Markt erworben hatte, auf einer solchen Lehranstalt nur wenig Nutzen brachten – obwohl selbst seine größten Gegner nicht bestreiten konnten, daß Lubji eine natürliche Begabung für Sprachen besaß. Und lange Arbeitsstunden, wenig Schlaf und strenge Disziplin machten dem Jungen aus Douski ohnehin nichts aus.
Am Ende seines ersten Jahres in Ostrau schloß Lubji in den meisten Fächern überdurchschnittlich gut ab. In Mathematik war er der Beste; in Ungarisch – jetzt seine zweite Sprache – der Drittbeste. Dem Direktor der Oberschule entging allerdings nicht, daß sein begabtester Schüler kaum Freunde hatte und fast zum Einzelgänger geworden war; zumindest war der Direktor erleichtert darüber, daß niemand mehr versuchte, den oft unbeherrschten Jungen einzuschüchtern – der einzige, der dies gewagt hatte, war auf der Krankenstation gelandet.
Als Lubji nach Douski zurückkehrte, war er erstaunt darüber, wie klein die Stadt ihm nun vorkam, wie arm seine Familie tatsächlich war und wie sehr sie sich daran gewöhnt hatte, sich ganz auf ihn zu verlassen.
Jeden Morgen, nachdem sein Vater zur Viehweide aufgebrochen war, stieg Lubji wieder den Hügel hinauf zum Haus des Rabbi, um seine Studien fortzusetzen. Der alte Gelehrte staunte, wie gut der Junge Fremdsprachen beherrschte; er gab sogar zu, daß er in Mathematik nicht mehr mit Lubji Schritt halten konnte. Nach dem Unterricht beim Rabbi begab Lubji sich auf den Markt, wie früher, und brachte an guten Tagen genug Lebensmittel mit, um die ganze Familie satt zu bekommen.
Er versuchte, seinen Brüdern das Geschäftemachen beizubringen, damit sie vormittags und während seiner Abwesenheit den Stand übernehmen konnten. Doch er mußte rasch einsehen, daß es hoffnungslos war. Er wünschte sich, seine Mutter würde ihm erlauben, zu Hause zu bleiben und sich ein Geschäft aufzubauen, von dem sie alle ihren Nutzen hatten. Doch Zelta zeigte kein Interesse daran, was Lubji auf dem Markt trieb; sie fragte ihn nur nach seinen schulischen Leistungen. Wieder und wieder las sie sein Zeugnis und hätte die Noten wahrscheinlich im Schlaf aufsagen können, noch ehe die Ferien zu Ende waren
– was immerhin Lubjis Entschluß stärkte, ihr mit dem nächsten Zeugnis noch bessere Noten nach Hause zu bringen.
Als die sechswöchigen Ferien endeten, packte Lubji widerstrebend seine kleine lederne Reisetasche, und Herr Lekski fuhr ihn abermals nach Ostrau. »Mein Angebot steht weiterhin«, versicherte ihm der alte Mann, »doch erst mußt du deinen Abschluß haben.«
Während Lubjis zweitem Jahr auf der Oberschule fiel bei den Gesprächen der Name Adolf Hitler fast so oft wie der von Moses. Jeden Tag kamen Juden über die Grenze, die vor den Schrecken des Naziregimes in Deutschland flüchteten, und Lubji fragte sich, was dieser Hitler als nächstes vorhatte. Er las jede Zeitung, die er in die Hand bekommen konnte, egal in
Weitere Kostenlose Bücher