Archer Jeffrey
zur Grenze führte.
An Schlaf dachte er nicht einmal. Er konnte bereits das Donnern von Geschützen hören, als die anrückenden deutschen Truppen sich von Westen her der Stadt näherten. Unentwegt marschierte Lubji weiter, vorbei an jenen, die viel zu langsam vorankamen, weil sie all ihre Habe zogen oder schoben, die sie im Laufe des Lebens angesammelt hatten. Er überholte schwerbeladene Esel; Karren, deren Räder dringend repariert werden mußten; Familien mit kleinen Kindern und greisen Frauen und Männern, die kaum die Chance hatten, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Er sah, wie Mütter ihren Söhnen die Locken abschnitten und alles fortwarfen, das sie als Juden verraten könnte. Gern wäre er stehengeblieben, um ihnen deshalb Vorhaltungen zu machen; doch er wollte keine kostbare Zeit verlieren. Er schwor, sich durch nichts auf der Welt dazu bringen zu lassen, seinen Glauben aufzugeben.
Die Disziplin, die man Lubji in den vergangenen zwei Jahren auf der Oberschule gelehrt hatte, machte es ihm leichter, ohne Essen und Trinken und ohne Rast bis zum Tagesanbruch weiter zu marschieren. Schließlich aber mußte er sich ein wenig Schlaf gönnen: beim ersten Mal hinten auf einem Karren, beim zweiten Mal auf dem Beifahrersitz eines Lastwagens. Lubji war fest entschlossen, ein befreundetes Land zu erreichen und sich auf dem Weg dorthin durch nichts und niemanden aufhalten zu lassen.
Obgleich die ersehnte Freiheit keine zweihundert Kilometer entfernt war, sah Lubji die Sonne dreimal auf- und untergehen, ehe er endlich die Rufe jener Menschen hörte, die an der Grenze zum freien, unabhängigen Ungarn angelangt waren. Schließlich blieb er am Ende einer schier endlos langen Schlange hoffnungsvoller Einwanderer stehen. Drei Stunden später waren die Wartenden nur ein paar hundert Meter vorangekommen, und die Flüchtlinge, die vor Lubji standen, ließen sich für die Nacht nieder. Besorgte Augen blickten in die Runde und sahen dunklen Rauch zum Himmel steigen, und alle vernahmen das Donnern von Geschützen, als die Deutschen ihren unerbittlichen Vormarsch fortsetzten.
Lubji wartete, bis es stockdunkel war; dann ging er lautlos an den schlafenden Familien vorbei, bis er die Lichter des Grenzpostens deutlich sehen konnte. So unauffällig wie möglich legte er sich in den Straßengraben und benutzte seine Reisetasche als Kopfkissen. Als der Grenzbeamte am Morgen die Schranke hob, wartete Lubji an der Spitze der Schlange. Nachdem die Wartenden hinter ihm erwachten und den unentwegt Psalmen murmelnden jungen Mann in seiner Schuluniform sahen, dachte nicht einer daran, ihn zu fragen, wie er nach vorn in die Warteschlange gekommen war.
Der Grenzbeamte vergeudete nicht viel Zeit mit der Durchsuchung der kleinen Reisetasche. Nachdem Lubji über die Grenze war, hielt er sich auf der Straße nach Budapest, der einzigen ungarischen Stadt, von der er gehört hatte. Von großzügigen Familien, die erleichtert waren, den Deutschen entkommen zu sein, mit Nahrungsmitteln versorgt, erreichte Lubji nach weiteren zwei Tagen und Nächten am 23. September 1939 die Außenbezirke der ungarischen Hauptstadt.
Beim Anblick Budapests glaubte Lubji, seinen Augen nicht trauen zu können. Bestimmt war dies die größte Stadt der Welt. Er verbrachte mehrere Stunden allein damit, durch die Straßen zu spazieren, und jeder Schritt berauschte ihn mehr. Schließlich ließ er sich erschöpft auf der Freitreppe einer großen Synagoge nieder. Als er am nächsten Morgen erwachte, galt seine erste Frage nach dem Weg zum Marktplatz.
Beinahe ehrfürchtig starrte Lubji auf die schier endlosen Reihen von Ständen und Buden – so weit, wie das Auge reichte. An einigen Verkaufsständen wurde nur Gemüse oder Obst angeboten; an anderen alte Möbel, und in einer Bude lediglich Bilder, von denen einige sogar gerahmt waren.
Obwohl Lubji ihre Sprache fließend beherrschte, lautete die einzige Frage der Händler, als er ihnen seine Dienste anbot: »Hast du was zu verkaufen?« Zum zweitenmal in seinem Leben sah Lubji sich mit dem Problem konfrontiert, daß er nichts besaß, womit er einen Tauschhandel hätte tätigen können. Deshalb konnte er nur zuschauen, wie andere Flüchtlinge kostbare Familienerbstücke für nicht mehr als einen Laib Brot oder einen Sack Kartoffeln hergaben. Rasch wurde ihm klar, daß man im Krieg mit einigem Geschick ein Vermögen anhäufen konnte.
Lubji wollte gerade weitergehen, als ein junger Mann, nur wenige Jahre älter als er, zu einem
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